Kapitel 13: Sonnenuntergang


Das Bowlingcenter ist voll.

"Hey, da seid ihr ja!" Shirani winkt uns zu sich herüber. Neben ihr stehen Merlin und Vinny. Der hatte mir erst in letzter Sekunde zugesagt, sodass ich mir gar nicht so sicher war, ob er überhaupt auftauchen würde.

"Schön, dass es noch geklappt hat!" Wir umarmen uns alle zur Begrüßung und suchen dann unsere Bahn. Wie sich herausstellt, scheinen Vinny und ich die einzigen zu sein, die einigermaßen bowlen können.

"Wie macht ihr das?" Kira stellt sich neben mich und verfolgt jede meiner Bewegungen. "Und wo hast du das gelernt?"

Ich grinse. "Während meiner Zeit in Downtown. Keine Sorge, du lernst das auch noch. Jetzt, wo es hier das Bowlingcenter gibt!"

Wir spielen ein paar Runden und haben eine Menge Spaß. Auch Vinny scheint sich gut mit den anderen zu verstehen und lacht sehr viel.

Bald sind wir so erschöpft, dass wir erstmal eine Pause einlegen. Ich setze mich zu Dan und wir reden über seine Arbeit.

"Vielleicht sollte ich mal bei meinem Vater anregen, dass wir auch in den Geschäftsimmobilienmarkt einsteigen." Er sieht sich um. "So ein Bowlingcenter kann doch jede größere Stadt gebrauchen."

Ich stimme ihm zu und sehe zu Vinny hinüber. Er redet mit Shirani und die beiden kommen mir ziemlich vertraut miteinander vor.

"Was meinst du? Welche Stadt könnte eher ein Bowlingcenter vertragen? Willow Creek oder Oasis Springs?" Dan ist immer noch vollkommen in seine Arbeitswelt vertieft und scheint in Gedanken schon verschiedene Geschäftsmodelle durchzurechnen.

"Ähm, keine Ahnung." Ich zucke gleichgültig mit den Schultern und sehe wieder zu Vinny hinüber.

Shirani redet in einer Tour mit ihm, ich kann aber nicht verstehen worüber. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich den Blick nicht von den beiden abwenden kann. Bin ich etwa eifersüchtig? So ein Unsinn! Ich kenne Vinny gerade mal seit einer Woche.

"Kommt, unsere Zeit an der Bahn ist vorbei. Wollen wir noch zusammen was trinken?" Kira ist aufgestanden und lotst uns zu einer Bar in der hinteren Ecke.

Wir finden alle noch einen Platz und bestellen unsere Getränke. Vinny hat sich neben mich gesetzt und sieht mich schelmisch an. "Lustige Freunde hast du! Hat echt Spaß gemacht!"

Ich stimme ihm zu. "Ja, das war witzig! Wo hast du Bowlen gelernt?"

"Während meiner Zeit an der Uni." Er prostet mir zu und trinkt einen Schluck von seinem Bier.

"Du hast dich vorhin ja richtig gut mit Shirani unterhalten. Ihr beide saht aus, als würdet ihr euch schon Jahre kennen." Ich versuche diesen Satz so unaufgeregt wie möglich klingen zu lassen.

"Naja, da ist was dran."

Ich sehe ihn überrascht an. "Ach ja?"

"Also kennen ist zu viel gesagt. Nach der Uni war ich eine ganze Weile Fotoassistent bei einem Fashionfotografen. Ich kenne Shirani von einigen Shootings von damals. Wir haben uns vorhin über die Branche unterhalten und sie hat mir angeboten einen Kontakt herzustellen, falls ich wieder im Bereich Modefotografie arbeiten möchte."

"Und, willst du?"

"Ich werde es mir überlegen. Aber momentan tendiere ich dazu, es erstmal weiter mit meinem Studio zu probieren. Ich habe auch nicht nur gute Erinnerungen an die Modebranche."

Ich sehe zu Shirani, die gerade in ein Gespräch mit Kira vertieft ist.

"Ich hab auch keine Ahnung wie sie das alles aushält. Wie ich das so mitbekomme, hat sie immer viel zu tun und reist viel umher. Aber immerhin scheint der Job lukrativ zu sein."

Vinny nickt. "Ich war damals bei einem ihrer ersten Shootings dabei. Sie scheint von Anfang an viel verdient zu haben. Das Luxusgirl hat sie schon damals raushängen lassen." Er lacht und schüttelt dabei den Kopf.

Als es spät wird, verabschieden wir uns und zerstreuen uns in alle Richtungen. Kira, Dan und ich müssen uns beeilen, um die letzte Fähre zu bekommen. Zuhause falle ich erschöpft ins Bett und kann nur an einen denken. Vinny.


Obwohl wir auf dem Präsidium Verstärkung aus Veronaville bekommen haben, wird die Arbeit nicht weniger. Die ersten Tage der Woche sind wir damit beschäftigt, die Neuen auf den aktuellen Stand der Ermittlungen zu bringen. Und auch danach wird es nicht besser - zu unseren Einbrüchen kommen noch ein Ladendiebstahl in der Magnolia Promenade und ein versuchter Autoklau hinzu.

Als ich am Freitagabend völlig erschöpft Zuhause ankomme, begegnet mir auf dem Weg zu meinem Haus Dan, der auch gerade mit dem Auto von der Arbeit gekommen ist.

"Guten Abend, Joelle. Du siehst ja ganz schön fertig aus."

Ich nicke nur. "Ja, ich bin froh, dass jetzt Wochenende ist."

"Wolltest du nicht morgen verreisen? Wen wolltest du nochmal besuchen? Eine Freundin von früher?"

"Genau, eine Kollegin", lüge ich. So fertig wie ich gerade bin wird mir bei dem Gedanken an die Reise nach San Myshuno ganz schlecht.

"Dann brauchst du heute Abend Entspannung. Lust auf Sauna? Kann ich heute nämlich auch gebrauchen."

Ich bin schon gar nicht mehr überrascht, was die beiden noch alles in ihrem Haus untergebracht haben und sage dankend zu.

Die Sauna liegt versteckt auf der hinteren Dachterrasse. Kira weist mir den Weg, bevor sie die Zwillinge ins Bett bringt.

Dan ist schon da, ich kann ihn durch die Glasscheiben der Sauna entdecken. Rasch verschwinde ich im nebenan gelegenen Bad, dusche kurz und werfe mir dann ein Handtuch um.

"Das ist ja ein Wahnsinns-Ausblick von hier!", schwärme ich, während ich mich neben Dan niederlasse. Am Horizont sind die Berge zu sehen. Die Abendsonne lässt das Meer und den Himmel in einem warmen Orange erscheinen.

"Und das tut wirklich gut!" Ich lasse meine Schultern kreisen und bewege meinen Kopf nach rechts und links, um den Nacken zu dehnen.

"Sag ich doch! Ich brauche das mindestens zweimal die Woche, um den Kopf frei zu kriegen." Dan schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Ich betrachte den Sonnenuntergang und es vergeht eine Weile, ohne dass einer von uns etwas sagt. Erst als bereits die Dämmerung einsetzt, fragt Dan plötzlich unvermittelt: "Du kriegst wohl Clara nicht mehr aus dem Kopf, was? Ist es wegen Leo?"

Ich sehe ihn überrascht an. "Wie bitte?"

"Naja", er lächelt mich an. "Merlin hat mir von eurem Gespräch letzte Woche erzählt. Und da habe ich mich gefragt, ob Leo dir erfolgreich irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt hat."

Ich versuche ruhig weiterzuatmen. "Es ging eigentlich nur darum, dass ich es unangenehm finden würde hier auf Dauer zu wohnen. Jeden Tag diese freie Sicht auf die Klippen und den Strand zu haben... Wir wollten das doch alles vergessen. Wenn ich hier leben würde, könnte ich das nicht. Mit Leo hat das nichts zu tun. Wir haben uns seit meinem ersten Tag hier nicht mehr gesehen."

Dan nickt. "Vielleicht verstehst du mich besser, wenn ich dir etwas erkläre: Kira und ich sind damals nach der Schule auch weg von hier, um zu studieren. Während dieser Zeit haben wir das alles versucht zu vergessen. Als wir nach Windenburg zurückkehrten, war das alte Haus weg. Seitdem sieht hier alles so anders aus. Wir hatten außerdem in der Zwischenzeit eine Familie gegründet. Nichts erinnert mich mehr an die Zeit früher. Ich habe das hinter mir gelassen."

"Ich verstehe", sage ich, obwohl ich nichts verstehe.

Dan scheint meine Unsicherheit zu bemerken. "Es war nunmal ein Unfall. Es ist ja nicht so, dass sie umgebracht wurde oder so. Es war eine Lektion für uns alle. Alkohol ist gefährlich, das sollten wir unseren Kindern frühstmöglich beibringen."

"Dann bist du dir also auch sicher, dass es am Alkohol lag?"

"Klar, woran denn sonst? Wir haben soviel gesoffen! Das hat ja schon mit dem Vorglühen am frühen Abend angefangen."

"Und dann ging der Abend ja erst so richtig los. Wir standen an der Bar, Merlin hat einen Drink nach dem anderen gemixt."

"Vor allem haben wir alles durcheinander getrunken. Bier, Schnaps, Wein, Cocktails, ihr Mädels Sekt. Das konnte doch nicht gut gehen."

"Allein schon, dass wir da wie verrückt am Feuer getanzt haben! Ohne Alkohol hätte das die Hälfte von uns nicht gemacht."

"Und dann bin ich doch noch Nachschub holen gegangen, weil wir in kürzester Zeit fast alles weggesoffen haben. Ich glaube ich habe dich auf den Weg nach oben zum Haus getroffen, kann das sein?"

"Ja, daran kann ich mich auch erinnern. Ich hatte Kira nach oben begleitet, die völlig fertig war. Dort habe ich sie in euer Gästezimmer gebracht, damit sie sich hinlegt."

"Ach, Kira war zu dem Zeitpunkt im Haus? Das wusste ich gar nicht. Naja, ich hatte jedenfalls Schwierigkeiten überhaupt noch Flaschen zu finden. Wir hatten unseren Einkauf völlig aufgebraucht."

"Dann ist mir Shirani im Haus begegnet. Sie kam aus dem Bad und wollte mir helfen, nach versteckten Vorräten meines Vaters zu suchen. Als wir uns dann auf den Weg zurück zum Strand machten, hörten wir Schreie von dort unten. Wir haben alles stehen und liegen gelassen und sind losgerannt."

"Was dann kam, war schrecklich. Selbstverständlich. Aber es ist auch schon ziemlich lange her. Natürlich kann ich das nicht alles vergessen. Aber ich habe es, wie gesagt, hinter mir gelassen. Ich kann mir erlauben, nicht mehr daran zu denken, wenn ich den Strand betrachte und die Klippen. Verstehst du jetzt?"

Ich schüttele den Kopf. "Machst du dir denn keine Vorwürfe deswegen? Der ganze Alkohol... Wir hätten besser aufeinander aufpassen müssen!"

Dan nickt. "Das stimmt. Aber wir waren zu dem Zeitpunkt auch schon erwachsen. Jeder muss auch auf sich selbst achten und wissen, wieviel er verträgt." Er steht auf und streckt sich. "Was wollte sie überhaupt dort oben? Ich vermute sie wollte ins Haus, auf Toilette oder sonst was und war zu betrunken, um den richtigen Weg zu finden. Vielleicht bin ich auch zu hart, aber wir können so oder so nichts an der Vergangenheit ändern. Glaub mir, wenn ich könnte würde auch ich den Abend gerne rückgängig machen, ist doch klar."

Ich nicke müde. "Natürlich."

Dann wirft mir einen tröstenden Blick zu und gemeinsam verlassen wir die Sauna. Ich wünsche ihm noch eine gute Nacht und genieße auf dem Weg zu meinem Haus die kühle Abendluft. Es ist inzwischen so dunkel, dass ich auf den beleuchteten Wegen gehen muss, um nicht zu stolpern. Nach einer kalten Dusche schlüpfe ich unter die warme Bettdecke und stelle meinen Wecker. Leo hat mir geschrieben, wann morgen unser Zug nach San Myshuno abfährt.
7:25 Uhr. Super Zeit, wirklich. Ich schließe die Augen und schlafe sofort ein.