Kapitel 22: Stockdunkel


Kurz bevor der Wecker klingelt schlage ich die Augen auf. Um Vinny nicht zu wecken, schlüpfe ich langsam unter der Decke hervor, schalte den Wecker aus und schleiche dann leise ins Bad. Unter der Dusche denke ich an den gestrigen Abend mit Steve und Camilla zurück. Ob Vinny das mit der Hochzeit ernst gemeint hat? Wird er mich irgendwann mal heiraten wollen?

Als ich aus dem Bad trete, steht mir ein putzmunterer Vinny gegenüber.

„Voilà, ein Fitness-Frühstück für die beste Polizistin, die ich kenne.“ Vinny drückt mir einen Kuss auf die Wange und führt mich zum Sofa.

„Du kennst doch außer mir gar keine Polizisten, oder?“, frage ich lachend und mache mich über das Müsli her.

Vinny verschränkt grinsend die Arme. „Na und? Trotzdem bleibt meine Aussage wahr!“

„Nimmst du die gleiche Fähre wie ich oder brauchst du noch etwas, um dich fertig zu machen?“, frage ich mit einem Blick auf seinen Schlafanzug.

„Ich bleibe noch etwas. Ich hatte gestern Abend noch Shirani geschrieben, wegen des Modeljobs für Camillas Kampagne. Ich treffe mich in einer Stunde bei ihr Zuhause.“

Ich blicke erstaunt auf. „Sie hat gleich zugesagt?“

Vinny schüttelt den Kopf. „Sie will es sich erstmal anhören. Meine Hoffnung ist, dass ich sie heute noch Camilla vorstellen kann. Aber mal sehen.“

„Na dann viel Erfolg! Und grüß sie ganz lieb von mir.“ Ich stehe auf und ziehe meine Schuhe an. „Danke für das Frühstück, du bist ein Schatz.“

Vinny küsst mich. „Sehen wir uns heute noch?

„Gerne! Ich ruf dich nach Dienstschluss an, ja?!“


Auf dem Präsidium erwartet mich wie jeden Morgen Hauptkommissar Thom mit stechendem Blick. „Lux, zur Abwechslung mal pünktlich, ja?!“

Ich verkneife mir die Antwort, dass ich jeden Tag pünktlich bin und nur die verflixte Uhr im Büro drei Minuten vor geht.

„Ich bin Ihre Akten durchgegangen, die sehen ja aus wie Kraut und Rüben. Heute machen Sie da Ordnung!“ Er deutet in mein Fach mit den Fällen, die ich zurzeit bearbeite.

„Alles klar, Chef.“ Ich warte bis Thom an den nächsten Schreibtisch verschwunden ist und seufze.

Auf Papierarbeit habe ich so gar keine Lust. Mal wieder ertappe ich mich dabei, wie ich die Arbeit in Downtown vermisse. Jeden Abend unterwegs auf den Straßen, pöbelnde Betrunkene, unbedeutende Taschendiebe… Warum nochmal wollte ich weg von dort?

Ich greife mir die erste Akte und schalte den PC an. Nach nur drei Klicks gibt der Rechner den Geist auf. Ich fluche und besorge mir Werkzeug. Ich habe inzwischen gelernt, dass es kein Geld für Reparateure gibt. Wenn etwas kaputt geht, müssen wir selbst ran.

Es dauert bestimmt eine Stunde, dann kann ich endlich weiterarbeiten.

Meine Laune bessert sich auch nicht, als ich die Akte vom Fall Gooser aufschlage. Mehrere Dokumente liegen lose und unsortiert einfach vorne in der Akte. Ich fluche und gehe zu Natalies Schreibtisch hinüber.

„Hey Natalie. Die Akte Gooser sah aber anders aus, als ich sie das letzte Mal in der Hand hatte. Hast du damit noch gearbeitet?“

„Na klar, ich bin schließlich die Fallbetreuerin“, antwortet sie schnippisch und schaut kurz auf.

„Könntest du dann bitte die Dokumente auch dorthin wieder zurückheften, wo sie vorher waren?“

Natalie hört auf zu tippen und legt den Kopf auf die Seite.

„Thom hat dir doch den Auftrag gegeben, mir zu helfen, oder? Und wenn ich mich vorhin nicht verhört habe, kam heute die zweite Anweisung, die Akten auf Vordermann zu bringen. Also, noch Fragen?“

Als ich nicht antworte, tippt Natalie weiter stoisch auf ihrer Tastatur herum und würdigt mich keines weiteren Blickes.

Ich bin so perplex, dass ich einfach wieder zurück zu meinem Schreibtisch gehe. Am liebsten würde ich jetzt nach Hause gehen.

Und so sehne ich den Feierabend regelrecht herbei. Noch in der Umkleide rufe ich Vinny an. Er meldet sich nach dem ersten Klingeln.

„Und? Wie ist es gelaufen mit Shirani?“, frage ich neugierig.

„Was glaubst du denn?“ Ich kann hören wie Vinny bei diesen Worten über das ganze Gesicht grinst.

„Sie macht den Job?“

„Noch besser! Das verrate ich dir aber nicht am Telefon. Kannst du zu mir kommen? Ich habe gleich noch einen Kunden für Passbilder und könnte erst in einer halben Stunde zu dir starten.“

„Okay, jetzt bin ich aber neugierig. Dann bis gleich bei dir!“

Die Sonne geht bereits unter, als ich Vinnys Haus erreiche. Ich klopfe und er öffnet, seine Augen funkeln im Gegenlicht.

„Der Kunde ist gerade weg, du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich ins Haus.

„Was ist denn los? Du bist ja ganz aufgeregt!“

„Es gibt zwei gute Nachrichten!“ Vinny hüpft beinahe vor mir auf und ab.

„Erstens: Shirani macht den Job. Camilla und Steve waren begeistert von ihr. Sie haben schon ein paar Testschüsse gemacht und Donnerstag geht’s dann richtig los. Ich soll dir außerdem ein großes Dankeschön von Camilla ausrichten. Der Spukende Landsitz ist wohl die perfekte Location."

Ich nicke lächlend. „Das klingt super! Und die zweite gute Nachricht?“

Ich folge Vinny ins Wohnzimmer und wir setzen uns auf die Couch.

Vinny atmet tief durch.

„Auf dem Rückweg von Steve und Camilla habe ich einen Anruf von Merlin bekommen. Er hat mich gebeten ins La Liz zu kommen.“

„Ja und?“

„Dort hat Merlin mir erzählt, dass sein Chef zwei weitere Restauranteröffnungen in San Myshuno und in Brindleton Bay plant. Die Website des Restaurants bekommt außerdem einen Relaunch und rate mal was sie dafür brauchen?“

„Ähm… keine Ahnung?“

„Food-Bilder!“ Vinny strahlt. „Und Merlin hat mich gefragt, ob ich den Job machen will!“

„Oh Mann, wie cool ist das denn!“ Ich drücke Vinny stürmisch an mich. „Das wolltest du doch immer schon machen!“

„Ja! Endlich kann ich in diesem Bereich einen Fuß in die Tür bekommen. Keine Passfotos mehr in Zukunft. Und auf lange Sicht hoffentlich auch keine abendlichen Schichten mehr in der Bar.“

Ich nicke. „Das ist auf jeden Fall ein Anfang. Das La Liz ist renommiert, da steigen deine Chancen auch in Zukunft Aufträge zu bekommen. Aber was ist mit deinem Studio? Das hast du doch gerade erst ausgebaut?“

Vinny zuckt mit den Schultern und grinst. „Ich lasse da einfach eine Küche einbauen.“

Ich muss lachen. „Schön, dass du das so entspannt siehst. Und wer macht zukünftig die Passfotos der Windenburger?“

„Ach, ich bin ja bei langem nicht der einzige Fotograf in der Stadt. Das ist ja das Problem.“

„Aber der beste!“ Ich küsse ihn lange und innig. „Und jetzt stoßen wir an!“

Ich suche in der Küche nach Wein und zwei Gläsern. Vinny ist mir gefolgt und hilft mir bei der Suche. „Mist, wenn mein Mitbewohner dann mal da ist, dann nur, weil er sich mit seiner Freundin gestritten hat. Und bei diesen Gelegenheiten hat er die Angewohnheit unsere gesamten Weinvorräte wegzutrinken…“

„Egal, dann stoßen wir eben mit was anderem an.“

Vinnys Gesicht hellt sich auf. „Ja! Unten müsste noch eine Flasche Sekt sein! Die hat mir vor ein paar Wochen dieses Ehepaar geschenkt, nachdem ich ihre Hochzeitsfotos geschossen habe.“

„Okay, du atmest jetzt mal für einen Augenblick tief durch und ich hole den Sekt!“, bestimme ich und schiebe Vinny zurück ins Wohnzimmer. „Wo genau ist die Flasche?“

„Die müsste im Besprechungsraum sein, links im Regal.“

Ich mache mich auf den Weg nach unten ins Studio. Hier ist es stockdunkel.

Im Besprechungsraum werde ich nicht fündig, die Schränke sind bis auf ein paar angebrochene Keksdosen leer, genauso wie das Regal. Vielleicht hat Vinny die Flasche doch woanders gelagert?

Ich mache Licht und  sehe mich im Studio um, kann aber nichts entdecken. Vinny wird die Flasche wohl kaum einfach irgendwo abgestellt haben, so ordentlich wie es hier aussieht.

Mein Blick fällt auf eine Tür. Neugierig öffne ich sie. Dahinter befindet sich ein kleines Büro mit PC und Bücherregal. Hier bearbeitet Vinny wahrscheinlich die Fotos.

Vielleicht hat er den Sekt hier abgestellt? Ich gehe hinein und ziehe wahllos einige Schubladen auf. Nichts. Auch im Kühlschrank stehen nur Wasserflaschen und Limonadendosen. Dafür immerhin soviele, dass damit eine ganze Fußballmannschaft versorgt werden könnte. Vinny hat den Sekt wahrscheinlich schon mit nach oben in sein Zimmer genommen, denke ich.

Überrascht entdecke ich an der Wand das Foto, das Vinny von mir in dem blauen Kleid geschossen hat. Ich muss lächeln, als ich an die Zeit unseres Kennenlernens zurückdenke. Mir wird klar, dass Vinny es geschafft hat, mich wieder mehr wie mich selbst zu fühlen. In diesem Moment bereue ich es nicht mehr, nicht in Downtown geblieben zu sein.

Ich wende mich schon zum Gehen, da fällt mir ein Buch ins Auge. Es steht im Bücherregal leicht vor, so als ob es erst kürzlich dorthin zurückgestellt worden ist.

Ein buntes Papier steckt im Buch, vermutlich ein Lesezeichen. Ich will das Buch im Regal zurechtrücken, aber die Bücher stehen so eng, dass es sich hartnäckig weigert. Erst jetzt sehe ich, dass kein Lesezeichen im Buch steckt, sondern ein Foto.

Ich nehme das Buch in die Hand, ziehe das Foto heraus und sehe es mir an. Erschrocken lasse ich das Buch fallen. Die Zeit um mich herum scheint plötzlich stehen zu bleiben. Meine Hand mit dem Foto beginnt zu zittern. Langsam drehe ich das Foto um. Dort steht etwas mit blauer Tinte in jugendlicher Schönschrift geschrieben. Ich muss mich anstrengen, meine Hand ruhig zu halten, um es lesen zu können.

Egal wie viele Kilometer uns trennen, du bist immer nur einen Herzschlag entfernt.

Ich hab dich lieb, Bruderherz!

Deine Clara