Kapitel 16: Rabenschwarz


"Also war es doch ein Unfall. Du stimmst mir doch zu, oder?" Ich sehe Leo erwartungsvoll an.

Wir stehen am Fluss vor Leos Haus und es dämmert bereits. Die letzten Minuten hat Leo mich reden lassen. Mit jeder Silbe, die aus meinem Mund gekommen ist, wurde sein Blick abwesender. Auch jetzt noch ist sein Blick fest aufs Wasser gerichtet. Er starrt vor sich hin, als wäre ich gar nicht da.

"Leo?" Mir wird kalt. Das Adrenalin, das mich beim Sprechen erfasst hatte, lässt nach und ich schlinge die Arme um meinen Körper, um mich warm zu halten.

"Und du bist dir sicher, dass Shirani nicht gelogen hat?" Seine Stimme klingt dumpf und leise. Ich muss mich anstrengen seine Worte zu verstehen.

"Ich habe schon die Lügen vieler Menschen enttarnt. Und Shirani war früher eine meiner besten Freundinnen. Ich weiß, wann sie lügt. Ich bin mir sicher, dass sie die Wahrheit gesagt hat."

Leo löst seinen Blick vom Wasser. Es scheint ihn einige Kraft zu kosten, aber er sieht mich an. "Dann waren die letzten Jahre also alle für die Tonne?"

Ich lege den Kopf auf die Seite. "Leo..."

Er dreht sich um und verschwindet hinter dem hohen Gras.

 Ich folge ihm ins Haus und er hält mich auch nicht davon ab. Ohne ein Wort zieht er sich in sein Zimmer zurück, wo er sich auf sein Bett setzt.

Ich kenne den Raum von früher, hier haben wir zu zweit so einige Stunden verbracht. Ich erinnere mich daran wie er mir seine Lieblingsfilme vorgeführt hat und wir anschließend die Küsse der Schauspieler nachzuahmen versuchten.

Das Zimmer sieht jetzt anders aus, die meisten bunten Poster sind verschwunden und es ist insgesamt aufgeräumter.

"Wo sind deine Eltern?", frage ich.

"Arbeiten."

Ich erinnere mich, dass Leos Eltern früher beide als Verkäufer geabeitet haben, wage aber nicht zu fragen, ob sie es heute immer noch tun. Stattdessen drehe ich Leos Schreibtischstuhl in seine Richtung und setze mich ihm gegenüber. Sein Anblick lässt Mitleid in mir aufsteigen. Er muss sich elendig fühlen, die letzten zehn Jahre für etwas verschwendet zu haben, das gar nicht wahr ist. Sein ganzes Leben hat darunter gelitten. Er wohnt noch bei seinen Eltern, während die anderen Eigentümer großer Häuser mit Pool und Meeresblick sind. Er arbeitet nachts im Museum, während die anderen ein Vielfaches verdienen. Und er hat in den vergangenen zehn Jahren jeden Tag an Clara gedacht, sich psychisch belastet mit einer Schuld, die gar keine ist.

"Ich hab eine Lehre als Tischler angefangen damals nach der Schule." Leo seufzt. "Ich hab sie nach einem Monat wieder abgebrochen. Ich konnte nachts nicht schlafen, ich hab immer Clara vor mir gesehen. Ich bin dauernd zu spät gekommen in die Werkstatt. Irgendwann bin ich einfach nicht mehr hingegangen. Ich habe ganze Wochen nur im Bett verbracht."

Er hebt den Blick, vorsichtig, so als schäme er sich für seine Worte. Ich stehe langsam auf und setze mich neben ihn.

"Aber du hast es da auch wieder rausgeschafft, Leo. Jetzt kann es doch nur noch bergauf gehen."

Er nickt langsam. Als er wieder zu sprechen beginnt, ist es fast nur ein Flüstern. "Du hast mich da wieder rausgeholt, Joelle. Die letzten Wochen haben mir gezeigt, dass ich doch nicht so allein bin, wie ich dachte."

Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und ich muss schwer schlucken. "Ist doch klar, ich..."

"Nein. Das war gar nicht klar. Weißt du, ich habe dich vermisst. Du warst von einem auf den anderen Tag einfach nicht mehr da. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, ich habe es akzeptiert. So wie ich auch akzeptiert habe, dass wir alle Schuld sind an Claras Tod. So wie es aussieht ist unsere Schuld aber viel geringer als gedacht. Ich will nicht nochmal zulassen, dass du mich verlässt." Er greift meine Hand und ich bin viel zu perplex um zu begreifen, was gerade geschieht.

Erst als er sich zu mir herüberbeugt, die Augen halb geschlossen, kann ich reagieren.
"Leo, nicht!" Ich zucke zurück.

Er sieht mich erschrocken an und ich blicke mindestens genauso erschrocken zurück.

"Aber..."

Ich schüttele den Kopf. "Nein, Leo. Tut mir Leid. Ich..." Mein Herz rast. Ein Teil von mir will aufspringen und wegrennen, der andere hält mich zurück. Auch ich will Leo nicht verlieren. Wenn ich jetzt einfach aufstehe und ohne etwas zu sagen gehe...

"Joelle, ich wollte dich nicht... Ich dachte..."

Ich schüttele den Kopf, sehe kurz in Leos Augen und erkenne darin ein gebrochenes Herz.

Schon wieder.

Ich habe sein Herz schon wieder gebrochen.

"Tut mir Leid...", wiederhole ich. Mein Kopf ist auf einmal seltsam leer. Langsam stehe ich auf und wende mich zum Gehen. Ich spüre Leos Blicke in meinem Rücken und drehe mich noch einmal um. Er schaut schnell weg und starrt eisern auf den Boden vor sich.

"Ruf mich an, wenn du was brauchst, ja?!"

Er antwortet nicht.

"Ich möchte, dass wir Freunde sind, Leo. Möchtest du das auch?"

Es dauert einige Sekunden, dann nickt er.

"Gut. Wie gesagt, ruf mich immer an."

Ich warte noch kurz seine Reaktion ab (ein erneutes kurzes Nicken) und eile dann die Treppe hinunter.

Draußen schlägt mir kühle Abendluft entgegen. Die Strecke zur Fährstation lege ich so schnell zurück wie nie zuvor.