Kapitel 23: Zappenduster


Immer noch zitternd lasse ich meine Hand mit dem Foto sinken. Mein Kopf fühlt sich plötzlich an, als würde er gleich explodieren. Als würden die verschiedenen Gedanken darum kämpfen, zuerst die Synapsen zu erreichen.

Vinny ist der Bruder von Clara. Diese Erkenntnis übertönt nun alles andere in meinem Kopf. Ich merke wie ich das Foto in die Hosentasche schiebe und das Büro verlasse. Meine Atmung beschleunigt sich, als ich die Treppe ins Erdgeschoss hochhetze.

Aus dem Wohnzimmer höre ich Vinny rufen: „Und, hast du die Flasche gefunden?“

Ich drücke die Haustür auf und schnappe die kühle Abendluft ein. Dann beschleunige ich meinen Schritt und beginne zu rennen. In meinem Kopf nur der eine Gedanke: Bloß weg hier.

Erst nach mehreren hundert Metern sehe ich wieder klar und beginne mich zu orientieren. Ich schlage einen kleinen Pfad ein, der ins Dunkle führt, weg von der beleuchteten Straße. Nach fünfzig Metern trifft der Weg auf einen kleinen Fluss und ich weiß, dass mich mein Orientierungssinn auch nach zehn Jahren nicht im Stich gelassen hat. Jetzt sind es nur noch zehn Minuten bis zu meinem Ziel, wenn ich noch schneller laufe vielleicht sogar nur acht.

Ich merke wie mein Handy in meiner Tasche vibriert, ignoriere es aber.

Ich versuche den Kopf abzuschalten, aber all die bösen Gedanken drängen sich mit einem Mal in den Vordergrund.

Vinny hat mich belogen.

Er wusste wer ich bin.

Er hat mich benutzt.

Vinny liebt mich nicht wirklich.

Ich renne weiter ohne zu merken wie die Zeit vergeht. Der Fluss wird breiter und als ich in der Ferne Straßenlaternen leuchten sehe, verlangsame ich meine Schritte. Dann bleibe ich abrupt stehen. Was ist, wenn Vinny glaubt, wir hätten etwas mit dem Tod seiner Schwester zu tun? Wenn er sich an uns rächen will? Ich blicke mich um und lausche. Ist er mir gefolgt? Schon wieder vibriert mein Handy. Ich hole es hervor und schaue aufs Display. Vinnys Foto leuchtet mir in der Dunkelheit entgegen.

Schnell stecke ich das Handy zurück in meine Hosentasche und kämpfe mich dann durchs Schilf. Vor Leos Haus komme ich zum Stehen. Erst jetzt merke ich, dass mein Gesicht nass von Tränen und Schweiß ist.

Ich stolpere vor zur Haustür und klopfe. Drinnen brennt Licht. Als keiner öffnet, klopfe ich ein weiteres Mal, länger und lauter.

Die Tür öffnet sich. „Joelle?“

Leo steht da, seine Augen weiten sich.

„Was ist passiert?“

Ich schlucke schwer, ringe nach Luft und kämpfe mit den Tränen. Leo greift meinen Arm und führt mich ins Haus zum Sofa. Dann schließt er die Tür.

„Vinny… Er… Er…“ Meine Stimme zittert.

Leo setzt sich vorsichtig neben mich und sieht mich eindringlich an.

„Er ist Claras Bruder.“ Ich breche in Tränen aus und verdecke mein Gesicht mit den Händen.

„Was?“ Leo berührt mich an der Schulter. „Joelle, was redest du da? Was ist passiert?“

Ich schlucke schwer und versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Dann ziehe ich das Foto aus meiner Hosentasche und reiche es Leo.

Der sieht es an und schweigt. Dann blickt er mich an, blickt zurück zum Foto.

„Das glaub ich nicht.“

„Ich hab es gefunden“, bringe ich hervor. „In seinem Büro…“

„Was hat er dazu gesagt?“ Leo spricht schnell. Seine Augen fixieren mich.

Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin abgehauen. Ich wollte nur noch weg da.“

„Du hast ihn nicht damit konfrontiert?“, flüstert Leo ungläubig.

„Leo! Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet?“ Ich springe auf. „Vinny wusste, dass ich mit Clara befreundet war. Er spielt ein falsches Spiel! Wer weiß was er vorhat! Er glaubt wahrscheinlich wir hätten etwas mit ihrem Tod zu tun! Er hat sich an alle rangemacht, an mich, Shirani, Merlin, Kira und Dan! Was, wenn er sich an uns rächen möchte?“

Leo schüttelt bei meinen Worten den Kopf. Dann steht er auf und nimmt mich unvermittelt in den Arm.

„Hey, hey, beruhige dich.“ Er streicht mir mit der Hand über den Rücken."Hier bist du in Sicherheit."

Ich werde ruhiger und eine unglaubliche Müdigkeit überkommt mich. Ich löse mich aus seiner Umarmung und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

Leo lächelt mich an. „Du gehörst ins Bett. Komm, meine Eltern sind nicht da. Du kannst oben schlafen.“ Ich folge ihm ins Schlafzimmer und lasse mir bereitwillig von Leo die Schuhe ausziehen. Dann lege ich mich ins Bett und schließe die Augen. Ich höre wie Leo hinausgeht und die Tür schließt.

Eine ganze Weile liege ich nur da, die Augen fest verschlossen und hoffe, dass das alles nur ein böser Traum ist. Ich versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren und alles andere um mich herum zu vergessen. Immer wieder schleichen Erinnerungen in meinen Kopf: Wie Vinny sich beim Bowlen mit Shirani unterhielt, wie er bei Dans Geburtstagsfeier mich drängte hinunter zum Strand zu gehen, zu den Klippen. Wie er mit mir nach Granite Falls fuhr, zum Campingplatz.

Plötzlich ertönt die Klingel von Leos Haustür. Ich zucke zusammen und lausche nach unten. Nichts ist zu hören. Dann klingelt es noch einmal. Flink stehe ich auf und schleiche barfuß durch den Raum, öffne die Tür und luke über das Treppengeländer nach unten.

Leo steht vor der geschlossenen Haustür und scheint mit sich zu ringen. Dann ruft er: "Was willst du?"

Ich schleiche einige Stufen hinab, um besser sehen zu können. Jetzt höre ich Vinnys Stimme von draußen und mein Herz macht einen schmerzhaften Sprung.

"Ich muss mit dir reden!"

"Was gibt es denn zu reden?" Leo sieht sich suchend im Raum um, während Vinnys Antwort dumpf durch die Tür ertönt:

"Ist Joelle bei dir?"

Ich laufe leise die Treppe hinunter. Leo sieht mich kommen und gibt mir mit wilden Handzeichen zu verstehen, dass ich wieder nach oben gehen soll. Ich positioniere mich schweigend links von der Tür in einem kleinen Erker hinter einer riesigen Zimmerpflanze und gebe Leo ein Zeichen, dass ich mich hier verstecke, falls er die Tür für Vinny öffnen sollte.

"Hallo?" Vinnys Stimme klingt wieder durch das Holz. "Ich muss dringend mit dir sprechen!"

Leo nickt mir nocheinmal zu, dann öffnet er die Tür. Erst einen Spalt, dann ganz.

Ich höre Leo sagen: "Was willst du?"

"Darf ich reinkommen?" Vinny klingt erleichtert.

Leo tritt zur Seite, Vinny betritt den Raum und schließt die Tür hinter sich. Ich mustere ihn aus meinem Versteck heraus. Er sieht immer noch so aus, wie ich ihn vor weniger als einer Stunde verlassen habe. Aufmerksam betrachte ich seine Kleidung. Versteckt er irgendwo eine Waffe? Mir fällt eine Ausbeulung an seinem Rücken auf, an der hinteren Tasche seiner Hose. Ich verfluche mich dafür, dass ich mir selbst keine Waffe besorgt habe. Die Polizistin in mir ist offensichtlich auch völlig hinüber.

"Also, was ist jetzt?" Leos Stimme klingt fest und selbstbewusst. Ich kenne ihn aber so gut, dass ich auch etwas Unsicherheit in seinen Augen bemerke.

"Ist Joelle hier?" Vinny blickt sich um.

"Nein. Warum willst du sie sprechen? Ist sie nicht bei dir?"

Vinny kratzt sich am Hinterkopf. "Ich habe einen großen Fehler gemacht und muss sie dringend sprechen."

"Worum geht es denn?" Leo lässt Vinny keinen Moment aus den Augen. Er klingt nicht gerade freundlich und das scheint Vinny zu verunsichern. Er mustert Leo eine Weile, sieht sich nocheinmal im Zimmer um und greift dann nach hinten zu seiner Hosentasche.

"Halt! Keine Bewegung!" Ich springe hinter der Pflanze hervor und stelle mich vor Leo.

"Joelle!" Vinny zuckt zusammen und stolpert ein paar Schritte nach hinten.

"Was wolltest du da gerade hervorholen? Eine Waffe? Wolltest du Leo umbringen? Dann musst du erst an mir vorbei!"

Vinny sieht mich erst überrascht an, dann beginnt er zu lachen.

"Was ist daran so lustig?", frage ich wütend.

Vinny fährt sich durchs Haar und atmet tief durch. "Entschuldige, eigentlich ist daran gar nichts lustig. Dachtest du wirklich, ich will Leo umbringen?"

Ich verziehe keine Miene. "Was ist in deiner Hosentasche?"

Vinny greift schon wieder nach hinten.

"Stopp! Dreh dich um."

Vinny zieht die Augenbrauchen hoch, hebt seine Hände nach oben und dreht sich langsam um. Ich gehe zwei schnelle Schritte auf ihn zu und hebe seinen Pullover an. Zum Vorschein kommt keine Waffe, sondern ein Buch.

"Was ist das?", frage ich und ziehe es hervor.

"Wollen wir uns nicht setzen?" Vinny klingt plötzlich erschöpft.

Auch Leo mustert Vinny misstrauisch, blickt über meine Schulter skeptisch auf das bunte Buch und macht dann eine einladende Handbewegung zur Sitzgruppe.

Vinny setzt sich auf den Sessel, Leo und ich aufs Sofa.

"Du hast das Foto gefunden, oder?", fragt Vinny und sieht mich traurig an.

Ich nicke, hole das Foto hervor und lege es zusammen mit dem Buch auf den Couchtisch zwischen uns.

"Dann wisst ihr jetzt also, dass ich Claras Bruder bin." Er schluckt schwer und sieht uns abwechselnd an.

Ich wende meinen Blick ab und kämpfe wieder einmal mit den Tränen. Ich will nicht weinen, schon gar nicht vor ihm, also schlucke ich dreimal hintereinander und versuche mich zusammenzureißen.

"Warum hast du das geheimgehalten?", fragt Leo, nachdem er sich mit einem Blick in meine Richtung versichert hat, dass bei mir alles okay ist.

"Weil ich mir nicht sicher war, ob ihr nicht alle unter einer Decke steckt."

"Was betreffend?"

"Claras Tod." Ich spüre Vinnys Blick auf mir ruhend, sehe ihn aber immer noch nicht an.

"Warum hast du mir das angetan?", flüstere ich jetzt. "Spätestens in Granite Falls muss dir doch klar gewesen sein, dass ich und auch Leo nichts mit Claras Tod zu tun haben! Dass ich immer noch mit dem, was damals passiert ist, zu kämpfen habe!"

Im Augenwinkel sehe ich Vinny nicken. Seine Antwort ist fast ein Flüstern: "Ich weiß. Und es tut mir Leid, dass ich dich in diese Situationen gebracht habe. Ich musste mir erst ganz sicher sein, dass du keine Mitschuld hast an ihrem Tod. Aber als ich es dann wusste, habe ich es nicht übers Herz gebracht, dir die Wahrheit zu sagen. Ich hatte Angst, du würdest mich verlassen. Denn ich liebe dich Joelle!"

Seine Worte lösen in mir große Verwirrung aus. Ich spüre wie Leo neben mir unruhig wird. "Was ist jetzt mit diesem Buch?"

Auch ich betrachte nun eingehender den bunten Einband.

"Das ist der Grund, warum ich nach Windenburg gekommen bin. Mit dem Buch hat alles angefangen." Vinny macht eine kurze Pause. "Das ist Claras Tagebuch."