Kapitel 14: Lichtflut


Es ist ungewöhnlich kühl für diese Jahreszeit, als ich den Bahnhof von Windenburg betrete. Die große Uhr am Bahnhofsgebäude zeigt 5 Minuten vor 7 und die Bahnsteige sind wie leer gefegt. Müde lasse ich mich auf einer der Bänke nieder und schließe die Augen. Ich bin todmüde und hoffe, während der Zugfahrt etwas Schlaf finden zu können.

"Auch schon hier?"

Ich öffne die Augen und blicke mich um. Leo kommt vor mir zum Stehen, lächelt kurz und setzt sich dann neben mich.

"Ja, ich musste die frühe Fähre nehmen. Bei der späteren hätte ich unseren Zug verpasst."

Leo schweigt. Ich frage mich, ob er aufgeregt ist. Immerhin hat er versprochen es gut sein zu lassen, sollte uns der Besuch bei Tommy nicht weiterbringen. Wie immer werde ich nicht schlau aus ihm. Er ist viel verschlossener als früher, verbissener.

"Woher weißt du, wo wir Tommy finden werden?", frage ich in die Stille hinein.

Leo sieht mich an. "Internet? Schonmal davon gehört?" Er verzieht keine Miene und ich frage mich für einen kurzen Moment, ob er genervt von mir ist oder nur zum Scherzen aufgelegt. Er bemerkt wohl meine Unsicherheit und fängt an zu grinsen. "Ob du es glaubst oder nicht, Tommys Adresse steht im Online-Adressbuch von San Myshuno. Hat keine drei Minuten gedauert bis ich es raus hatte."

"Und wenn er gar nicht da ist? Er könnte verreist sein. Als E-Sportler ist er bestimmt viel unterwegs."

Leo runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. "Sei doch nicht so pessimistisch! Und wenn schon, dann lassen wir ihm eben eine Nachricht da und erkunden ein bisschen die Großstadt. Warst du schonmal in San Myshuno?"

Ich verneine. Leo nickt zufrieden und lehnt sich auf der Bank zurück. Sein Optimismus ist ansteckend.

Der Zug fährt ein und spuckt eine Handvoll Passagiere aus, die Richtung Bahnhofsgebäude verschwinden. Leo und ich suchen uns einen Sitzplatz und warten auf die Abfahrt. Laut Plan wird die Fahrt gut drei Stunden dauern. Ich mache es mir bequem und schließe die Augen.

Während der Fahrt reden wir fast kein Wort. Ich merke bald, dass ich im Zug nicht werde schlafen können, versuche mich aber trotzdem etwas zu entspannen. Kurz vor unserer Ankunft versuche ich aus Leo herauszubekommen, wie wir bei unserem Treffen mit Tommy vorgehen wollen, aber er winkt nur ab und sagt, dass wir das ganze einfach auf uns zukommen lassen sollten. "Aber ich denke, mit Tommy können wir offen reden - vorausgesetzt er hatte in den letzten Jahren keinen engen Kontakt zu den anderen."

Um 10:40 Uhr erreichen wir endlich die Endstation - den Bahnhof von San Myshuno. Der Zug ist inzwischen gut gefüllt, sodass es etwas dauert, bis wir endlich draußen sind.

Ich fühle mich sofort erschlagen von der Lautstärke, den Farben, der Lichterflut der Reklametafeln, den vielen Menschen und der Großstadtluft. Ich kenne zwar Downtown, aber das ist nichts gegen das hier.

"Wow, ist das alles gigantisch hier!" Auch Leo ist baff und starrt die Skyline an.

"Wo müssen wir hin?", frage ich und reiße mich von der atemberaubenden Aussicht los.

Leo zeigt auf einen Platz in der Nähe. "Erstmal da lang."

Ich folge ihm, bleibe aber kurz darauf bei einer Straßenmusikerin hängen. "So etwas müsste es in Windenburg geben!" Ich schmeiße ein paar Münzen in den Geigenkasten und auch Leo lauscht der Musik.

"Komm, wir müssen weiter", drängt er mich nach ein paar Minuten.

"Und wohin?" Ich sehe Leo hilfesuchend an.

"Komm mit." Er läuft zielgerichtet los und bleibt dann vor einem Schild mit dem verwirrenden Straßenverlauf San Myshunos stehen. "Hier. Ich habe mir Zuhause die Wegbeschreibung angeschaut." Er fährt mit seinem Finger über die Karte. "Wir müssen nur hier links, dann immer geradeaus, hier wieder links, nein rechts. Oder doch erst später abbiegen? Warum sieht das hier so anders aus?"

"Na dann ist ja alles klar." Ich muss lachen und sehe mich um. "Am besten fragen wir einfach irgendjemanden."

Eine Taxifahrt später stehen wir vor einem riesigen Wolkenkratzer.

"In dem Gebäude wohnt Tommy?" Ich lege ungläubig den Kopf in den Nacken und blicke die Fassade hoch.

Leo zuckt mit den Schultern und schweigt. Ohne zu zögern betritt er das Gebäude und ich folge ihm.

"Hier gibt es sogar einen Pförtner!", flüstere ich, während wir uns an der Rezeption vorbeischleichen in Richtung Fahrstühle.

"Na und? Viel zu bringen scheint er ja nicht." Leo drückt auf den Knopf für den Lift.

"Weißt du denn, in welches Stockwerk wir müssen?" Ich sehe mich vorsichtig zu dem Pförtner um, der auf seinen Computerbildschirm starrt und nichts um sich herum zu bemerken scheint.

Der Fahrstuhl ist da und Leo steigt ein. Als er sich zu mir umdreht, bemerke ich sein Grinsen. "Nun komm schon! Liest du etwa keine E-Sportler-Magazine?"

Ich sehe ihn verwirrt an, stelle mich aber schnell neben ihn, bevor sich die Tür wieder schließt. "Was soll das denn nun wieder?"

Leo drückt den obersten Knopf mit der Aufschrift "Penthouse". "Ich bin während der Adresssuche auch auf ein paar interessante Suchmaschineneinträge über Tommy gestoßen. Und da war unter anderem eine Story in einer Zeitschrift über seine E-Sportler-Mannschaft dabei. Im Text wurde erwähnt, dass sie einen Sieg "im Penthouse von Tommy Kuhn" gefeiert haben."

Ich ziehe anerkennend die Augenbrauen hoch. "Nicht schlecht, Dr. Watson, nicht schlecht!"

Oben angekommen stehen wir vor einer einzigen Tür. Es gibt eine Klingel, aber kein Namensschild.

"Und wenn er gar nicht hier wohnt?" Mir wird plötzlich unwohl bei der Sache.

Leo schweigt - wie schon so oft an diesem Tag - und drückt ungerührt auf den Klingelknopf.

Eine Weile passiert nichts. Leo will gerade zu einem zweiten Klingeln ansetzen, da hören wir Geräusche hinter dem Holz. Unvermittelt öffnet sich mit einem Ruck die Wohnungstür und ich halte die Luft an.

"Hey, was seid ihr denn für zwei... Leo?!" Tommy steht vor uns. Er hat nur eine Shorts an, die Haare sind leicht durcheinander und seine Augen sehen müde aus. "Und Joelle?! Ich glaub's einfach nicht! Seid ihr es wirklich?" Er lacht lauthals und offenbart strahlend weiße Zähne.

"Hey Tommy." Leo lächelt und hebt die Hand zum Gruß. Tommy schlägt ein und kann immer noch nicht aufhören zu lachen. "Wahnsinn! Warum habt ihr nicht vorher Bescheid gesagt, dass ihr vorbeikommen wollt? Kommt rein, kommt rein. Na los!"

Wir betreten die Wohnung und Tommy umarmt mich. "Ihr habt euch gar nicht groß verändert. Seid ihr etwa noch zusammen?"

Leo und ich wechseln einen Blick und schütteln dann gleichzeitig den Kopf. Tommy grinst. "Ach kommt schon, das glaub ich euch nicht!"

Ich will gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da tauchen wie aus dem Nichts zwei junge Frauen auf. Die eine ist von Kopf bis Fuß tätowiert - was ich nur sehe, weil sie sonst nichts als Unterwäsche anhat. Die andere trägt auch nicht viel mehr und aus ihrem überdimensionalen Mund kommt eine maulende Stimme: "Toooommmmyyy, wo bleibst du denn?"

Tommy geht zu ihnen hinüber. "Sorry, Ladies. Ich hab jetzt Besuch. Abflug, aber dalli." Er scheucht sie um die Ecke und ich höre ihn von dort flüstern: "Meine Nummer habt ihr ja."

Ich sehe Leo an, dessen Augen fest auf die Stelle gerichtet sind, wo eben noch die zwei Frauen standen. Kopfschüttelnd sehe ich mich um. Wir befinden uns in einem riesigen Zimmer, in dem Tommy offensichtlich arbeitet, schläft und isst. In einer Ecke kann ich seinen Computer entdecken, ein Hightechgerät wie ich es noch nie zuvor gesehen habe.

"Kommt, setzt euch!" Tommy hat sich inzwischen ein Shirt übergezogen und geleitet uns in den Wohnbereich. Dort wartet er bis wir uns auf das Sofa fallen gelassen haben. "Wollt ihr Kaffee?"

"Ja, gerne", sagt Leo und späht wieder in den Schlafbereich hinüber, wo sich die zwei Frauen gerade anziehen. Tommy sieht das und grinst. "Das sind Samantha und Chantal. Wir haben gestern Abend ein bisschen gefeiert und die zwei Ladies haben mich nach Hause gebracht." Er zwinkert Leo zu und verschwindet hinter die Küchentheke. Ich verdrehe die Augen. Tommy hat sich offenbar kein Stück verändert.

"Was treibt euch nach San Myshuno?" Tommy hantiert an der Kaffeemaschine herum.

Leo sieht wieder zu den zwei Frauen und da erst wird mir klar, dass er darauf wartet, dass die beiden verschwinden. Ich komme ihm zu Hilfe. "Wir machen einen Tagesausflug und kamen dann auf die Idee, dir einen Besuch abzustatten."

"Yeah, das ist meine Crew. Cool, dass ihr an mich gedacht habt."

"Ciao, Tommy!", flötet eine der Frauen und winkt ihm zu. Die andere zieht nur einen Schmollmund (ob ungewollt oder nicht, vermag ich nicht zu sagen) und die beiden verlassen die Wohnung.

"Tadaa, hier kommt der Kaffee." Tommy reicht uns die randvollen Tassen und setzt sich dann zu uns. "Wie geht es den anderen? Habt ihr noch Kontakt?"

Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist in dieser Situation auch noch Kaffee zu trinken.

Leo dagegen scheint ganz ruhig zu sein. "Ja, wir sind alle noch in Windenburg. Hattest du die letzten Jahre keinen Kontakt zu den anderen?"

Tommy schüttelt den Kopf. "Nein, leider nicht. Ich weiß auch nicht... Am Anfang habe ich noch manchmal mit Dan geschrieben, aber das hat sich dann verlaufen. Unsere Leben haben sich so anders entwickelt, da ist der Kontakt irgendwann abgebrochen." Er trinkt einen Schluck und sieht mich an. "Was machst du jetzt, Joelle? Ist aus dir eine Ärztin geworden wie geplant?"

"Nein, ich bin Polizistin."

"Woah, ehrlich?" Tommy verschüttet fast seinen Kaffee und reißt die Augen auf. "Wie cool ist das denn  bitte?"

Ich muss lächeln angesichts seines Enthusiasmus.

"Und du, Leo?"

Der zieht einen Mundwinkel nach oben. "Da kann ich leider nicht mithalten. Ich arbeite in einem Museum als Nachtwärter."

Tommy lacht. "Du verarschst mich doch, oder?"

Leo zuckt mit den Schultern. "Leider nicht. Aber genug davon. Was ist mit dir?" Er sieht sich um. "Nett hast du es hier. Läuft also gut, das mit dem Gaming?"

Tommy nickt. "Ja, alles super. Ich wohne auch erst seit zwei Jahren hier, vorher hab ich lange Zeit mit meinen Jungs in einer WG gelebt. Hab viel gespart, um mir das hier leisten zu können."

Leo räuspert sich und ich merke, wie sich neben mir sein Körper anspannt, als er auf der Couch nach vorne rückt. "Tommy? Wir sind eigentlich wegen was bestimmtem hier."

"Ach ja?" Er sieht auf. Leos Miene ist ernst und Tommy runzelt besorgt die Stirn. "Ist was passiert? Ist jemand von uns gestorben?"

Leo spricht langsam und deutlich. "Gewissermaßen schon, aber das weißt du ja bereits. Es geht um Clara."

Tommy scheint kurz wie erstarrt. Er blickt erst zu mir, dann wieder zu Leo, ohne zu blinzeln.

"Was ist denn mit ihr?" Seine gute Laune ist wie weggeblasen.

"Wir glauben nicht mehr, dass es ein Unfall war." Leo lässt Tommy nicht aus den Augen. Der steht plötzlich auf, hebt seine Hände an den Hinterkopf und läuft vor uns auf und ab.

"Okay. Aber warum... Warum das Ganze? Shit, das ist doch Vergangenheit. Was bringt es, das jetzt wieder auszugraben?" Er bleibt stehen und sieht zu mir. "Hat es was mit deinem Job zu tun? Wird der Fall wieder neu aufgerollt?"

Ich schüttele den Kopf. "Nein Tommy. Leo und ich haben nur etwas... recherchiert. Und, nun ja, dabei haben wir herausbekommen, dass du damals bei der Aussage gegenüber der Polizei einen Selbstmord von Clara in Betracht gezogen hast." Dass ich die Akte ohne Erlaubnis kopiert habe, verschweige ich besser.

"Und da haben wir uns gefragt, warum? Wir sind doch alle von einem Unfall ausgegangen", fügt Leo hinzu.

"Okay, okay. Ich brauche einen Drink." Tommy macht auf dem Absatz kehrt, durchquert das Zimmer und verschwindet durch eine Tür am anderen Ende. Leo und ich stehen auf und folgen ihm.

Wir finden ihn im Esszimmer, wo er sich an der Bar etwas zusammenmixt.

"Lasst uns nach draußen gehen. Ich brauche frische Luft." Wir setzen uns auf die Terrasse und lassen Tommy kurz Zeit.

"Ihr wollt also wissen, warum ich damals an einen Selbstmord von Clara geglaubt habe?"

Leo nickt.

"Okay. Ihr könnt euch doch bestimmt noch an diese Sache mit Shirani und Clara erinnern. Shirani klebte im letzten Schuljahr quasi an mir. Dazu war sie noch extrem eifersüchtig. Dabei habe ich ihr von Anfang an klar gemacht, dass ich nichts festes will. Für Clara dagegen war meine Einstellung kein Problem. Wir haben oft zusammen rumgehangen, das hat Shirani gar nicht gefallen. Und eskaliert ist das ganze dann auf dieser Party."

"Inwiefern?", frage ich.

"Es fing schon am Anfang des Abends an. Ich habe Musik aufgelegt und Clara kam zu mir ans DJ-Pult. Wir haben uns ganz normal unterhalten, ein bisschen geflirtet."

"Shirani hat das gesehen und ihr hat das offenbar gar nicht gefallen. Mir war die ganze Sache ziemlich egal. Ich hab im Laufe des Abends weiter mit Clara geflirtet."

"Irgendwann kam dann aber Shirani zu uns. Sie war wie besessen und hat uns den ganzen Abend belagert. Dabei hat sie sogar Kira vergessen, die sich ziemlich abgeschossen hat."

"Später dann haben die beiden sich gestritten. Also Clara und Shirani. Ich wollte mich da nicht einmischen, das war halt Mädelskram. Ich wollte keinen Stress, versteht ihr?"

"Clara ist dann nach oben Richtung Haus gegangen und Shirani kam zu mir. Ich war ziemlich betrunken, mir war alles egal. Ich hab dann eben mit Shirani rumgemacht."

Tommy macht eine Pause und starrt auf die Skyline von San Myshuno.

"Und weiter?" Leos Stimme ist die Angespanntheit anzuhören.

Tommy seufzt. "Keine Ahnung... Die Runde hat sich zerstreut, als es später wurde. Irgendwann waren nur noch Merlin und ich da unten. Es begann bereits zu dämmern."

"Plötzlich gab es so ein Geräusch. Etwas ist ins Wasser gefallen. Und Merlin hat es gesehen. Er hat irgendwas gerufen und Richtung Ufer gezeigt. Dann sind wir hingerannt und haben Clara im Wasser entdeckt."

"Wir waren total geschockt! Und dann... Dann kam mir der Gedanke, dass sie sich umgebracht haben könnte. Mir ist der Streit mit Shirani wieder eingefallen und dass Clara mir einmal erzählt hat, dass sie sich aus der Clique ausgeschlossen fühlt. Shirani hatte in den letzten Monaten immer alles daran gesetzt, dass Clara bei Treffen von uns nicht dabei war, weil sie Angst hatte, ich könnte Clara ihr vorziehen. Diese Gedanken sprudelten nur so aus mir raus und da fing auch Merlin plötzlich an. Er sagte, dass Dan Clara in letzter Zeit ganz schön geärgert und aufgezogen hätte. Merlin hatte sich nie getraut etwas dagegen zu tun. Denn Dan war sein bester Freund und hatte ihn selbst einst aus einer Mobbingsituation befreit. Er hatte so ein schlechtes Gewissen! Wir haben immer wieder gesagt: 'Scheiße, sie hat sich umgebracht! Und wir sind Schuld!' Dann seid ihr beide plötzlich gekommen. Und dann auch der Rest von uns."

"Ihr alle habt davon gesprochen, dass es ein Unfall gewesen sein muss. Aber Merlin und ich waren uns einig, dass es genauso gut auch ein Selbstmord gewesen sein könnte."

Jetzt ist es Leo, der unter Spannung steht und unruhig mit den Fingern auf seinen Knien herumtrommelt. Ich sehe, wie es in seinem Kopf arbeitet.

"Okay, ihr beide habt der Polizei von der Selbstmord-Möglichkeit erzählt..."

"Ja, wir haben aber nicht gesagt, warum wir das glauben. Merlin und ich haben uns vorher darauf geeinigt, dass wir nicht genauer darauf eingehen werden, weil wir uns dann selbst belastet hätten. Wir wollten anderen gegenüber nicht eingestehen, dass wir eine Mitschuld an ihrem Tod haben könnten."

"Deshalb auch die selbe Wortwahl! Ihr habt euch abgesprochen!", rufe ich triumphierend.

"Was?" Tommy sieht mich verwirrt an.

Ich winke ab. "Ach nichts..."

Je weniger er von unserer Recherche erfährt, desto besser.

"Also deswegen streitet Merlin heute ab, an einen Selbstmord zu glauben. Er ist sich seiner möglichen Mitschuld durchaus bewusst, will es aber nicht zugeben, da er dadurch auch Dan beschuldigen würde und den will er nicht verlieren." Leo schnaubt verächtlich. "Wie erbärmlich!"

"Ihr habt mit den anderen auch darüber gesprochen? Was sagen sie denn dazu?", fragt Tommy und leert sein Glas in einem Zug.

"Sie glauben alle noch an den Unfall. Oder behaupten es zumindest."

"Naja, so abwegig ist es ja auch nicht. Clara war ein starkes Mädchen. Ihr war Shiranis Meinung ziemlich egal. Und sind wir mal ehrlich: Das war unsere Abschlussfeier! Danach hätten sich unsere Wege sowieso zerstreut und die Clique wäre zerfallen. Clara konnte es also ziemlich egal sein, dass Shirani sie dauernd versuchte auszuschließen. Außerdem wollte Clara nach der Schule für ein Jahr umherreisen. Warum sollte sie sich umbringen, wenn sie sowieso vorhatte das alles erstmal hinter sich zu lassen?"

Leo zuckt mit den Schultern. "Vielleicht war sie ja doch in dich verliebt und wollte mehr."

Tommy schüttelt vehement mit dem Kopf. "Nein, da bin ich mir sicher. Sie war immer locker und hat selbst gesagt, dass sie nichts festes will. Wie gesagt, sie wollte reisen. Wer braucht schon Fernbeziehungen?"

"Das heißt, du glaubst jetzt nicht mehr an einen Selbstmord?"

Tommy sieht mich an. "Ich weiß nicht. Ich wollte gar nicht mehr an damals denken. Aber als die Polizei den Fall abgeschlossen hatte und ich hörte, dass sie von einem Unfall ausgehen, habe ich das natürlich geglaubt. Und mir sind mit der Zeit immer mehr Argumente eingefallen, die gegen einen Selbstmord sprechen."

Ich weiß inzwischen gar nicht mehr, was ich denken soll und starre gedankenverloren in die Ferne. War es also doch ein Unfall und Leos Aufregung völlig umsonst?

"Joelle?"

Ich schrecke auf. "Ja?"

Tommy und Leo sehen mich beide fragend an. Offensichtlich erwarten sie irgendetwas von mir.

"Tommy hat uns gerade gefragt, ob wir uns noch zusammen San Myshuno anschauen wollen. Unser Zug nach Hause geht ja erst heute Abend."

"Na klar gerne! Aber nur, wenn du jetzt nichts anderes vorhast, Tommy."

Der lacht. "Meine Planung für den heutigen Tag habe ich ja vorhin nach Hause geschickt. Ich bin ganz für euch da!"


Den Nachmittag verbringen wir mit einer Tour durch die Großstadt. Tommy ist ein charmanter Begleiter, der uns großzügig die Geheimtipps der Stadt und alle Facetten San Myshunos präsentiert (von einer abgewrackten Kunstgalerie, über süße Flohmärkte bis hin zu typischen Attraktionen für Touristen).

Als es dämmert, lassen wir uns an einem der zahlreichen Streetfood-Stände nieder und Tommy handelt sogar den Preis für uns herunter.

"Danke, dass du uns begleitet hast, Tommy! Wir hätten uns allein wahrscheinlich schon nach zehn Metern verlaufen."

"Kein Ding. Wie gesagt, kommt immer gerne vorbei. Ihr seid hier willkommen!"

Wir essen unsere Burger auf und quatschen noch eine Weile über vergangene Zeiten und Tommys Zeit nach der Schule.

"Wollt ihr meinen Clan kennenlernen? Bis euer Zug fährt, dauert es doch noch etwas, oder?"

"Deinen Clan?" Ich sehe ihn verständnislos an.

"Das ist mein E-Sport-Team. Wir sind zu acht."

"Clan... Wie lustig! Habt ihr denn auch einen Namen?"

Tommy lächelt verschmitzt. "Natürlich! Jedes Team braucht einen Namen. Wir sind Flash Power."

"Klingt wie ein Putzmittel", murmelt Leo und ich hoffe, dass Tommy das nicht gehört hat.

Gemeinsam nehmen wir einen der Stadtbusse und fahren zur Teamunterkunft von Tommys Clan.

"Ich denke mal, dass alle da sind. Wir treffen uns oft abends und zocken zusammen. Bald steht auch wieder ein Turnier an, die Vorbereitungen laufen jetzt wieder an."

Das Gebäude ist von außen unscheinbar und befindet sich zwischen einem Skaterpark und einer Bar. Drinnen wird Tommy gleich lauthals begrüßt.

"Hey Bro! Da bist du ja! Die beiden da sehen aber anders aus als die zwei Schnitten, die du gestern Abend mit nach Hause genommen hast!"

Tommy grinst und stellt uns vor. Mir fällt eine junge Frau auf, offensichtlich die einzige weibliche im Team.

"Hi, ich bin Laurel. Freut mich euch kennenzulernen. Alte Freunde von Tommy, interessant!" Sie lächelt herausfordernd und mustert mich eindringlich. Ich erwidere ihren Blick.

"Jetzt erzähl doch mal von gestern, Digga. Wie war es?", fragt einer der Männer und ein Kreis bildet sich um Tommy, der sogleich  von seinen zwei Eroberungen zu berichten beginnt. Ich sehe, wie Laurel schwer schluckt, dann aber selbstsicher aufsteht und laut in die Hände klatscht. "Wollten wir nicht was zusammen essen?"

Ich werfe ihr einen mitleidigen Blick hinterher. Also noch eine, die Tommy verfallen ist.

Die Runde beginnt geschäftig Essen in der Mikrowelle aufzuwärmen und Snacks aus dem Kühlschrank zu kramen. Leo und ich lehnen dankend ab, die Burger haben satt gemacht.

Es wird laut, aber lustig. Die Männer werden nicht müde, einen kindischen Witz nach dem anderen zu reißen und sogar Leo taut auf und lacht lauthals mit. Laurel und ich werfen uns immer wieder ein Augenrollen zu und kommentieren die Sprüche flüsternd.

Nach einer halben Stunde schaue ich auf die Uhr. "Ich fürchte, wir müssen los."

Leo nickt und wir verabschieden uns von allen. Tommy begleitet uns noch zur Tür. "Den Weg zum Bahnhof schafft ihr allein, oder? Ist ja nur drei Busstationen entfernt."

Er umarmt uns zum Abschied. Leo räuspert sich. "Tommy? Wäre es okay für dich, wenn du unseren Besuch bei dir den anderen aus unser alten Clique verschweigst?"

Der zuckt mit den Schultern. "Ich habe sowieso keinen Kontakt mehr. Aber klar, ich behalte es für mich, wenn ihr das wollt. Wie wir heute festgestellt haben, ist die Sache ja eh geklärt."

Bevor wir gehen, beugt sich Tommy nochmal zu mir vor und flüstert: "Schnapp ihn dir, Joelle! Ich hab doch heute den ganzen Tag gesehen, welche Blicke er dir zuwirft."

Ich werde rot. Tommy nickt bekräftigend und sagt dann laut: "Also! Gute Rückfahrt euch beiden!"

Leo wendet sich zum Gehen. Ich folge ihm, blicke aber nochmal zurück. Tommy zwinkert mir zu und hält grinsend beide Daumen nach oben.