Kapitel 7: Schummerlicht


"Lux! Hier spielt die Musik!"

Die Stimme von Thom reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Erschrocken sehe ich mich um und schiebe fahrig die Papiere vor mir auf dem Tisch zu einem Stapel zusammen. Hauptkommissar Thom sieht mich noch einen Moment warnend an, dann fährt er fort.

"Fünf Einbrüche allein in den letzten sieben Tagen. Und keine vernünftige Spur. Ich wiederhole mich nur ungern, aber ich will Ergebnisse sehen!" Während er vor der Karte von Windenburg steht und Pinnwandnadeln in den Kork rammt, als würde er die Wand damit entzweien wollen, atme ich tief durch. Das geht nun schon den ganzen Tag so: Meine Gedanken schweifen ab zum vergangenen Samstag und ich vergesse dabei alles um mich herum. In den ungünstigsten Momenten.

Ich versuche einen konzentrierten Gesichtsausdruck aufzulegen, wobei mein Blick immer wieder zur Uhr über der Tür wandert. Am Wochenende habe ich mir einen Plan überlegt, der mir nun immer verrückter erscheint, je näher die Mittagspause rückt. Aber ich werde nicht darum herumkommen, wenn ich herausfinden will, was damals wirklich mit Clara passiert ist.

Es ist eigentlich ganz simpel: Ich muss mich nur in der Pause hinunter ins Aktenarchiv schleichen und die Polizeiakte von Claras Fall finden. Ich kann mich daran erinnern, wie wir am frühen Morgen im Wohnzimmer von Dan saßen.

Irgendjemand hatte die Polizei verständigt und wir warteten - ängstlich, verstört, aufgewühlt.

Jeder von uns war dann einzeln vernommen worden, nur in Anwesenheit eines Elternteils. Und diese Aussagen müssen in der Akte zu finden sein. Ich hoffe, dass sie etwas Licht ins Dunkel bringen können.

"Lux, von Ihnen fehlt noch der Bericht zum Fall vom Freitag. Heute Nachmittag liegt der auf meinem Schreibtisch!"

Ich nicke eifrig und setze ein Lächeln auf, das Thom aber schon gar nicht mehr wahrnimmt, da er bereits den nächsten Kollegen anblafft.

 

Die Besprechung ist vorbei und ich kehre an meinen Schreibtisch zurück. Bis zur Mittagspause versuche ich den Bericht zu schreiben, bekomme aber keinen vernünftigen Satz zustande. Als sich die ersten Kollegen in die Kantine verdrücken, beginnen meine Hände zu schwitzen. 12:30 Uhr. Ich stehe auf und schlendere hinaus auf den Gang. So unauffällig wie möglich nähere ich mich den Treppen, die zum Kellertrakt führen. Als der Gang für einen Moment leer ist, biege ich flink um die Ecke und springe die Stufen hinunter. Erleichtert öffne ich die Tür zum Archiv und pralle gegen etwas Weiches.

"Nanana, nicht so schnell. Wo wollen Sie denn hin?"

Eine rundliche Kollegin sieht mich prüfend an.

"Ich..." Verdutzt starre ich sie an. Na klar, die Kollegin, die Archiv-Dienst hat! Wie konnte ich die nur in der Aufregung vergessen?

"Ich brauche die Akte zum Fall... zum Fall Huber!"

Die Archivarin zieht die Augenbrauen hoch. "Ich mache jetzt erst einmal Mittagspause, Liebes. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder."

"Ich brauche die Akte aber ganz dringend! Hauptkommissar Thom reißt mir sonst den Kopf ab!" Meine Stimme klingt verzweifelt und löst in der Archivarin einen Lachanfall aus.

"So schlimm? Na, wir wollen ja nicht Ihr hübsches Köpfchen riskieren. Dann mal los!"

Sie macht auf dem Absatz kehrt und führt mich ins Schummerlicht des Archivs. "Ich zeige Ihnen nur schnell, wo Sie die Akte finden. Dann muss ich in die Kantine." In einem verschwörerischem Flüsterton fügt sie hinzu: "Ich bin nämlich heute mit dem Karl aus dem Labor verabredet."

Ich lächle gequält und frage mich, wer zur Hölle Karl ist. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, bleibt sie vor ihrem Schreibtisch stehen, der inmitten des Raumes zwischen den vielen Aktenschränken steht.

"Hier ist das Register, chronologisch aufgebaut und alphabetisch sortiert. Ihren Fall Huber finden Sie doch ausnahmsweise allein, oder?"

"Na klar. Vielen Dank!" Ich nicke eifrig und sehe ihr dann hinterher. Sobald ich die Tür ins Schloss fallen höre, schlage ich das Register auf und suche nach dem Jahr 2007. Der Ordner ist schnell gefunden. Aufgeregt blättere ich zum Buchstaben Y. Clara Yang. Da steht es. Archiviert unter der Nummer 07-07-14-CY-JB037.

Schnell kritzele ich das Aktenzeichen auf einen Notizzettel und sehe mir dann die umliegenden Regale an. Sie scheinen nach dem gleichen System wie das Register aufgebaut zu sein.

Ich irre eine Weile zwischen den Regalgängen umher, bis ich endlich eine Aktenschrankreihe mit der Aufschrift
"2007 - V-Z" entdecke. Ich laufe den Gang entlang und stehe endlich vor den Schränken mit dem Buchstaben Y.

Ich ziehe die erste Schublade auf, mein Blick fliegt nur so über die Aktenzeichen. In der dritten Schublade endlich finde ich, was ich suche. Ich ziehe die Akte heraus. Sie ist überraschend dünn. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass die Zeit drängt. Da fällt mir der Kopierer im Eingangsbereich des Archivs ein.

Hektisch, mich dabei aber immer wieder selbst zur Ruhe ermahnend, nehme ich die Blätter aus der Akte und schiebe sie in den Einzug des Kopiergeräts. Blatt für Blatt wird eingezogen, während ich nervös zur Tür schaue. Nach gefühlten Stunden ist auch das letzte Blatt kopiert. Ich hefte die Originale zurück, greife mir die Kopien aus der Ablage, laufe zurück zum Aktenschrank und verstaue die Mappe wieder an ihrem Platz.

Dann mache ich mich erleichtert zurück auf den Weg nach oben. Es ist Punkt 13 Uhr, als ich wieder an meinem Schreibtisch ankomme. Ich bin jedoch viel zu aufgeregt, um jetzt noch konzentriert weiterarbeiten zu können. Und so verdrücke ich mich ins Labor, wo nur ein einziger Kollege am anderen Ende des Raumes still vor sich hinarbeitet. Ich vergewissere mich, dass er in seine Arbeit vertieft ist und mich nicht beachtet, dann setze ich mich an einen der Arbeitsplätze und hole die kopierten Blätter hervor.


Leo wartet bereits im Eingangsbereich des italienischen Restaurants und sieht sich suchend um. Er hat den Treffpunkt vorgeschlagen, denn wir mussten feststellen, dass die von mir vorgeschlagenen Orte schon nicht mehr existieren.

10 Jahre können eine Stadt mehr verändern, als ich dachte.

Ich bin etwas aufgeregt und Leo bemerkt das.

"Hallo Joelle. Schön, dass du angerufen hast. Scheint ja was wichtiges zu sein. Du klangst schon am Telefon so geheimnisvoll."

Ich sehe mich um. "Ich hatte dich doch nach einem ruhigen Ort gefragt. Das ist riesig hier!"

Leo grinst. "Reg dich ab. Komm mit. Oben gibt es eine ruhige Ecke."

Ich folge ihm in die erste Etage, wo sich die Bar des Restaurants befindet. Bis auf den Barkeeper ist die gesamte Etage wie ausgestorben.

"Ist noch zu früh für Drinks, also haben wir hier unsere Ruhe." Leo lässt mir den Vortritt und setzt sich dann neben mich auf eines der Sofas.

"Also, was gibt's?" Leo sieht mich gespannt an.

Ich hole tief Luft. "Die Akte von Claras Fall. Ich habe sie gelesen."

Leo zieht die Augenbrauen hoch. Einen Moment scheint es ihm die Sprache verschlagen zu haben.

"Wann?", entfährt es ihm dann.

"Heute Nachmittag. Danach habe ich dich gleich angerufen."

Leo fährt sich mit der Hand übers Gesicht. "Und was steht drin?"

"Nicht viel. Aber es sind alle unsere Aussagen drin. Und ein Bericht über die Todesursache."

Er sieht mich fragend an. "Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Was hast du gelesen?"

Plötzlich steigen Tränen in mir auf. Ich versuche sie zu unterdrücken, aber dann bricht es aus mir heraus.

Leo scheint mit der Situation überfordert zu sein. Unbeholfen legt er mir eine Hand auf die Schulter. "Joelle?! Ist ja schon gut. Tut mir Leid."

Ich wische die Tränen weg und atme tief durch. "Nein, nein. Geht schon wieder. Das ist alles nur so nervenaufreibend. Seit dem Wochenende kann ich mich wieder an Einzelheiten von damals erinnern und als ich die Akte gelesen habe, kam das alles wieder hoch. Ich habe es bis eben unterdrückt. Weißt du, ich konnte mich noch nicht einmal an meine eigene Aussage erinnern."

Leo zuckt mit den Schultern. "Hmm, ich mich an meine auch nicht. Ich weiß nur noch, dass ich dabei mit meinen Eltern im Wohnzimmer saß."

Ich zögere kurz. "Leo, du hast damals ausgesagt, dass das mit Clara ein Unfall gewesen sein muss. Du hast erzählt, dass wir alle ziemlich viel getrunken haben und dass Clara in der Dunkelheit von den Klippen gefallen sein muss."

Ich beobachte seine Reaktion, die wie in Zeitlupe eintritt. Erst erkenne ich in seinen Augen Überraschung, dann Ungläubigkeit, schließlich Erkenntnis. "Ja, das haben wir damals ja auch geglaubt. Es war ein Schock für uns alle. Ich weiß noch wie wir zusammen im Wohnzimmer von Dan auf die Polizei gewartet haben. Alle haben durcheinander geredet und immer wieder fiel das Wort "Unfall". Dann haben wir doch bestimmt alle das gleiche ausgesagt, oder?!"

Als ich nicht antworte, wiederholt er seine letzte Frage.

"Naja..." Ich seufze. "Tommy und Merlin haben ausgesagt, dass es Selbstmord gewesen sein könnte."

Leos Augen weiten sich. "Was?"

Ich nicke. "Alle anderen von uns - Shirani, Kira, Dan, du und ich - haben ausgesagt, dass wir uns ihren Tod nicht erklären können und einen Unfall vermuten. Nur Tommy und Merlin zogen einen Selbstmord in Betracht."

Leo schüttelt vehement den Kopf. "Nein, das kann nicht sein. Immer, wenn ich Merlin in den Jahren danach davon überzeugen wollte, dass es ein Selbstmord war, hat er mich abgewürgt. Er wollte über diese Sache nicht mehr reden!" Er ist nun außer sich. "Und Tommy? Den habe ich nur einmal sprechen können, er ist ja kurz nach dir weggezogen. Aber auch er wollte von nichts hören."

Ich nicke langsam. "Das ist nun wirklich seltsam. Mir ist außerdem aufgefallen, dass die beiden bei ihren Aussagen nahezu die gleichen Worte verwendeten."

Leo schnaubt. "Das ist doch verrückt! Warum sollten sie erst der Polizei gegenüber von Selbstmord sprechen und bei mir dann von nicht mehr wissen wollen?"

Ich ziehe die Schultern hoch. "Vielleicht wollten sie das einfach alles vergessen. Das haben wir uns doch damals versprochen. Dass wir diesen Abend hinter uns lassen."

"Ha, ich hab das aber nicht vergessen. In den Monaten danach ist mir ziemlich schnell klar geworden, dass es kein Unfall gewesen sein kann." Leo knetet seine Finger und blickt stur auf den Boden. "Die gleichen Worte sagtest du? Dann ist da was faul! Die haben sich abgesprochen, was sonst?"

"Du meinst, die stecken da irgendwie mit drin?" Ich schaue ihn erschrocken an.

"Keine Ahnung." Leo seufzt. "Ich könnte jetzt doch was zu Essen vertragen. Komm, ich lad dich ein."

Er steht auf und ich folge ihm nach unten. Wir suchen uns einen freien Tisch fern von den anderen Gästen.

Nachdem wir bestellt haben räuspert sich Leo. "Was steht noch in der Akte? Wie wurde der Fall damals abgeschlossen?"

Ich schließe kurz die Augen, um mich zu erinnern und nichts wichtiges zu vergessen.

"Als Todesursache wurde eine Kopfverletzung identifiziert. Sie stammt von den scharfen Steinen an den Klippen. Clara ist nach unten ins Meer gestürzt und dabei einmal mit der Schulter und einmal mit dem Kopf an hervorstehende Steine geprallt. Sie ist ziemlich dicht an den Klippen aufgekommen und auf Steine, die aus dem Wasser ragten, gefallen. Dort hat sie sich noch mehr Verletzungen zugezogen, war aber wohl schon tot." Meine Stimme zittert und ich schlucke schwer.

Leo fragt nicht weiter, sondern wartet bis ich mich wieder gesammelt habe.

"Die Ermittler haben unsere Aussagen allesamt als authentisch eingestuft. Letzten Endes waren es ja auch nur Vermutungen von uns, wir alle haben Clara zuletzt irgendwann am Strand gesehen. Zum Todeszeitpunkt waren wir beide, Leo und Merlin im Strandbereich. Kira war oben im Haus und hat geschlafen. Dan und Shirani haben ausgesagt, dass sie auch im Haus waren. Dan, um Getränkenachschub zu holen und Shirani war auf Toilette."

Unser Essen kommt und wir machen uns darüber her.

Zwischen zwei Löffeln voll Kürbissuppe fahre ich fort. "Die Ermittler sind noch kurze Zeit der Vermutung von Merlin und Tommy nachgegangen. Sie haben Claras Eltern und unsere Lehrer befragt, Claras PC durchsucht, aber keine stichhaltigen Anhaltspunkte für einen Selbstmord gefunden, geschweige denn einen Abschiedsbiref. Zwei Wochen nach ihrem Tod wurde die Akte geschlossen mit dem Ergebnis, dass es ein Unfall war."

Leo kaut aufgebracht auf seinen Spaghetti herum. Dann flüstert er: "Das stimmt doch vorne und hinten nicht. Irgendwas ist da faul."

"Du glaubst also immer noch an Selbstmord?", frage ich, nachdem die Kellnerin unsere leeren Teller abgeräumt hat.

Leo wiegt den Kopf hin und her. "Ausgeschlossen ist es nicht. Und mich regt es umso mehr auf, dass Merlin und Tommy das offensichtlich auch glauben, sich aber ihrer Schuld nicht stellen wollen. Vielleicht wissen die beiden etwas, das wir nicht wissen."

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Du hast mich zwar immer noch nicht vollends überzeugt, aber auch ich denke, dass da irgendetwas faul ist."

Leo grinst plötzlich. "Also, was ist jetzt? Machen wir einen auf Sherlock Holmes und Dr. Watson?"

Auch ich muss nun kurz Lachen. "Okay, aber ich bin Sherlock."