Kapitel 8: Belichtung


Das Ende der Woche ist schneller da als gedacht. Ich hatte bei meinem letzten Gespräch mit Leo ausgemacht, dass wir uns am Freitag gegen 19 Uhr bei ihm treffen würden, um unser weiteres Vorgehen abzustimmen. So lege ich den Nachhauseweg im Eiltempo zurück – Hauptkommissar Thom hatte mich den ganzen Tag mit Arbeitsanweisungen überhäuft und ich konnte mich nur mit Müh und Not um kurz nach 18 Uhr vom Schreibtisch loseisen. Eigentlich hatte ich vor noch eine Kleinigkeit zu Essen und zu duschen, bevor ich mich mit Leo treffe, aber beides schaffe ich wohl nicht mehr.

Gedankenverloren krame ich vor meiner Haustür nach dem Schlüssel – was ist wohl das kleinere Übel: mit knurrendem Magen oder aus allen Poren stinkend bei Leo aufzutauchen? Ich entscheide mich für Ersteres, stürme ins Haus und biege um die Ecke Richtung Treppe, um hoch ins Bad zu gehen.

 

„ÜBERRASCHUNG!“

Wie vom Donner gerührt bleibe ich stehen und blicke in acht grinsende Gesichter. Plötzlich geht die Musikanlage los und beschwingende Tanzmusik dröhnt aus den Lautsprechern.

„Willkommen zurück in Windenburg!“ Shirani schlingt ihre Arme um mich und sieht mich dann lachend an. „Du müsstest dein Gesicht mal sehen!“

„Wow… ich…“ Erst jetzt schweift mein Blick durchs Wohnzimmer. Die Sofas sind an die Seite geschoben worden, die Wände mit Luftballons dekoriert und die Fenster mit goldenen Vorhängen abgedunkelt. In einer Ecke entdecke ich einen Schokobrunnen.

„Du musst doch einen Riesenhunger haben!“ Kira tritt an mich heran und nimmt mir meine Tasche ab. „Wir im Übrigen auch. Wir warten schon seit einer Stunde auf dich! Du und deine Überstunden…“ Dann zerrt sie mich hinter sich her in die Küche, wo es verlockend duftet.

"Merlin hat es sich nicht nehmen lassen, seine Kochkünste für dich auszupacken."

"Merlin?", frage ich verwundert und drehe mich verdutzt zu den anderen um.

Ein kräftig gebauter junger Mann mit kurzen Haaren, Bart und Brille tritt an mich heran und umarmt mich. „Natürlich! Ich muss doch dabei sein, wenn unser verloren gegangenes Schäfchen zurück zur Herde findet.“

Er lächelt schüchtern und deutet dann zu einer jungen Frau, die sich am anderen Ende des Raumes im Hintergrund hält.

„Darf ich vorstellen? Das ist Nadine, meine Verlobte.“ Ich winke ihr zu und wende mich dann auf die andere Seite.

Dort stehen die drei jüngeren Schwestern von Shirani, Drillinge, die auf die gleiche Schule gingen wie wir.

„Wow, ich … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke, das ist wirklich eine tolle Überraschung, dass ihr gekommen seid!“

„Du weißt doch wie wir als Studenten ticken: Wenn irgendwo eine Party mit Freigetränken steigt, sind wir dabei!“, kichert Sharon, als ich mich für ihr Kommen bedanke. Shelly und Shanna fügen wie im Chor hinzu: „Schön, dass du wieder da bist!“

„Ich erkläre das Buffet für eröffnet!“, verkündet Shirani, woraufhin es in der Küche ziemlich eng wird.

„Wie seid ihr überhaupt ins Haus gekommen?“, frage ich Kira, die neben mir an der Theke steht und sich Salat auftut.

„Oh, das war einfach! Shirani hat mit deiner Mitbewohnerin Kelly Kontakt aufgenommen. Mit ihr haben wir dann ausgemacht, dass sie uns ins Haus lässt, bevor sie zur Spätschicht fährt.“

„Raffiniert!“, grinse ich und folge Kira dann zurück in den Wohnraum.

Dort geselle ich mich zu Merlin auf die Couch.

„Ich habe gehört, du arbeitest jetzt als Koch?!“, frage ich ihn.

Der nickt. „Ja, ich bin Souschef im LaLiz.“

„Oh, das kenne ich noch! Es hat damals eröffnet, als wir gerade unseren Abschluss gemacht haben. Wie läuft der Laden?“

Merlin beginnt zu strahlen. „Sehr gut! Ich bin wirklich froh, dort damals meine Ausbildung gemacht zu haben. Es ist toll dort! Mir macht die Arbeit einfach unglaublich viel Spaß.“

„Wo arbeitest du, Nadine?“, wende ich mich an seine Verlobte, die sich zu uns gesetzt hat.

„Oh, ich… Ich bin Schriftstellerin.“ Sie lächelt zurückhaltend und schiebt sich ihre Gabel, auf der ein winziges Salatblatt thront, in den Mund.

Ich will sie gerade fragen, woran sie zurzeit arbeitet, da baut sich Shirani vor mir auf. „Los, ich will deinen Hüftschwung sehen!“

Sie nimmt mir meinen halbvollen Teller aus der Hand und stellt ihn auf den Couchtisch. Dann dreht sie die Musikanlage lauter und zieht mich auf die Tanzfläche.

Sharon, Shanna und Shelly lassen sich nicht zweimal bitten und tun es uns gleich. Nach kurzem Zögern kommt auch Kira dazu. Wir tanzen uns die Seele aus dem Leib und bekommen uns vor Lachen nicht mehr ein. Als der nächste Song zu spielen beginnt, bleibt Shirani plötzlich stehen.

„Hey, das ist doch… dieser Song!“ Ihre Augen beginnen zu Leuchten. „Joelle, Kira! Dazu mussten wir in der Tanz-AG in der elften Klasse diese Choreografie einstudieren.“

Kira verdreht die Augen. „Oh Gott, stimmt!“

„Kennt ihr noch die Choreo? Das war doch nicht so schwer…“

Shirani scheucht ihre Schwestern von der Tanzfläche und wir stellen uns auf. Dann zählt sie ein. „Drei, zwei, eins, und!“

Wir spulen die Tanzschritte ab, als wäre es gestern gewesen und ich fühle mich zurückversetzt in die elfte Klasse. Die anderen johlen und klatschen, während wir über den Wohnzimmerboden fegen. Anschließend lassen wir uns lachend auf dem Sofa nieder.

„Das sah super aus!“ Dan klatscht noch immer in die Hände und küsst Kira.

„Als wären wir wieder 17 Jahre alt“, lacht sie. „Apropos! Ich hab da was!“

Kira steht auf und kramt in ihrer Handtasche. Dann kehrt sie zu uns zurück, in der Hand einen Stapel Fotos.

„Die habe ich rausgesucht. Hatte ich ewig nicht mehr in der Hand.“

Auch Dan beugt sich interessiert zu uns herunter.

„Ach du Meine Güte, meine Haare!“ Shirani streicht sich beim Anblick des alten Fotos durch ihre Haarpracht. „Wie das aussah damals! Wo waren wir da nochmal?“

„Da waren wir doch auf Klassenfahrt! Campen an diesem See. Mann, das war vielleicht ein Spaß“, sagt Dan und grinst.

„Also ich fand das ätzend!“, erwidert Shirani und schüttelt sich dabei. „Dieser See hat gestunken!“

„Oh, Kira. Wo hast du das denn ausgegraben?“, frage ich und nehme eines der Fotos in die Hand. Es zeigt ein Selfie von Leo und mir. Bei dem Gedanken an Leo wird mir plötzlich ganz heiß. Erschrocken schaue ich auf die Uhr. 19:10 Uhr. Durch die Überraschungsparty habe ich Leo völlig vergessen! Ich nehme mir fest vor, ihm gleiche eine Entschuldigungsnachricht zu senden, damit er sich nicht wundert, wo ich bleibe.

„Wenn du willst, kannst du es behalten. Wie läuft es eigentlich mit Leo? Wir haben ihn vorsichtshalber nicht eingeladen, weil er sich so seltsam verhalten hat in letzter Zeit.“

Bevor ich darauf etwas erwidern kann, überreicht Kira mir das Foto und blättert zum nächsten.

Clara ist darauf zu sehen, zusammen mit Shirani. Keiner sagt ein Wort, nur das Lachen der Drillinge ist zu hören und die Popmusik aus der Anlage.

Schnell zieht Kira das nächste Foto aus dem Stapel hervor.

Es zeigt uns am Fluss, wo wir oft unsere Abende verbrachten. Dan macht eine flapsige Bemerkung über Merlin, der auf einem der Fotos zu sehen ist und ruft ihn dann zu uns herüber.

Gemeinsam sehen wir die restlichen Fotos durch und amüsieren uns herrlich über unsere jüngeren Ichs.

 

Anschließend schnappe ich mir meinen Salatteller und gehe in die Küche, um mir noch mehr von den Köstlichkeiten zu holen. Dort hockt Sharon am Tisch und mixt sich gerade ein Getränk aus gefährlich vielen verschiedenen Flaschen.

„Weißt du denn, was du da zu dir nimmst?“, frage ich Shiranis Schwester lachend und werfe ihr dann einen tadelnden Blick zu.

„Keine Bange. Das ist mein Spezialdrink. Willst du auch einen?“

Ich lehne dankend ab und wende mich den Tellern und Schüsseln zu. „Wirklich toll, was ihr für mich auf die Beine gestellt habt. Danke nochmal!“

Shelly winkt ab. „Da musst du Shirani danken. Sie hat das alles organisiert.“

„Das ist wirklich lieb von ihr. Und das, obwohl ich mich solange nicht gemeldet habe.“

„Ach was, da ist sie nicht nachtragend. Ihre Freunde sind ihre Familie. Und ich kann aus Erfahrung sagen, dass sie die beste Schwester der Welt ist!“ Sharon räumt die Flaschen beiseite und prostet mir zu. „Auf dich!“

Ich nicke ihr zu und beobachte belustigt ihren Gesichtsausdruck, der sich beim ersten Schluck aus dem Glas merklich verändert, was sie jedoch zu überspielen versucht. Mit mäßigem Erfolg.

Ein Lachen unterdrückend stimme ich ihr zu. „Ja, Shirani scheint sich kaum verändert zu haben. Sie ist immer noch so offen und selbstbewusst wie damals.“

„Und ob!“, stimmt Shelly mir zu. „Wobei… Eines hat sich doch verändert: Sie ist viel großzügiger geworden. Damals hat sie kein einziges Klamottenstück hergegeben, auch wenn sie schon längst herausgewachsen war! Und heute? Ohne ihre finanzielle Unterstützung könnten wir drei niemals studieren!“

Kira kommt in die Küche gestürmt. „Joelle, wo bleibst du denn? Wir wollten doch nochmal tanzen!“

Amüsiert angesichts ihrer extrovertierten Art, die ich noch von früher kenne, folge ich ihr ins Wohnzimmer. Zurück bleibt mein Teller voll mit Leckereien, die ich an diesem Abend wohl nicht so schnell werde verspeisen können.