Kapitel 28: Schein


Die ganze nächste Woche über schiebe ich das Unvermeidbare vor mir her. Ich habe Leo und Vinny versprochen, noch einmal mit Shirani zu reden, aber innerlich graut es mir davor. Je länger ich warte, desto mehr frage ich mich, ob Shirani vielleicht doch etwas mit Claras Tod zu tun gehabt haben könnte. Sie ist meine Freundin, auch wenn wir viele Jahre keinen Kontakt hatten. Doch in dieser Situation muss ich die Freundin wohl hinten an stellen und die Polizistin in mir nach vorne holen.

Am Donnerstag schließlich fasse ich mir ein Herz und wähle auf dem Nachhauseweg Shiranis Nummer. Doch schon nach kurzer Zeit springt die Mailbox an. Ich lege auf und tippe eine kurze Nachricht in mein Handy.

„Wollte nur mal hören wie es dir geht. Hast du am Wochenende Zeit für ein Treffen? Liebe Grüße, Joelle“

Doch weder am Abend noch am nächsten Tag schreibt Shirani zurück. Ungewöhnlich, denke ich. Wo sie doch sonst nie ohne ihr Handy das Haus verlässt. Ich beschließe also, nach der Arbeit kurz bei ihr vorbeizuschauen.

Es dämmert bereits, als ich die Fähre verlasse und den Weg zu ihrem Haus einschlage. Schon von weitem sehe ich Licht in einem der Zimmer brennen und mein Puls steigt. Ich hatte fast die ganze letzte Woche Zeit, mir Gedanken zu machen und einen Plan zurechtzulegen wie ich Shirani noch einmal dazu bringen könnte über die verhängnisvolle Nacht zu sprechen. Und doch scheint mein Kopf jetzt wie leer gefegt. Reiß dich zusammen, Joelle, sag ich mir und atme tief durch. Ich bleibe vor der Eingangstür stehen und lausche. Es dringen TV-Geräusche nach draußen. Sie ist also da. Ich klingele und warte angespannt auf dem Treppenabsatz.

Die Tür öffnet sich. „Joelle! Hey, wie geht’s?“ Es ist nicht Shirani, die vor mir steht, sondern ihre jüngere Schwester Sharon. „Du willst bestimmt zu Shirani, oder?“

Ich nicke. „Ja, ist sie da?“

Sharon schüttelt den Kopf. „Leider nein. Aber komm doch erst mal rein, der Wind heute ist ja ganz schön fies.“ Dankend nehme ich das Angebot an und folge ihr hinein. Das Haus scheint sich seit meinem letzen Besuch verändert zu haben. Kein Wunder, damals war Shirani gerade erst eingezogen und die Wohnung nur spärlich eingerichtet. Doch das hat sich jetzt, Monate später, etwas geändert. Sharon läuft zum Sofa, schaltet den Fernseher auf lautlos und bietet mir einen Platz an.

„Wir haben uns ja auch schon ganz schön lange nicht gesehen. Ich glaube zum letzten Mal auf deiner Willkommensparty, oder?“ Sie schaut mich interessiert an. „Shirani meinte, du wohnst jetzt drüben bei Dan und Kira?“

„Genau, die zwei haben da ein kleines Haus auf ihrem Grundstück stehen und Kira hatte es mir angeboten. Ähm, wo ist denn Shirani?“

Sharon zuckt mit den Schultern. „Im Ausland. Selvadorada oder so. Shelly, Shanna und ich wechseln uns ab mit dem Haushüten.“ Sie blickt sich um. „An sich ist das echt cool, aber der Weg zur Uni ist halt echt weit. Und die Fähre nervt.“ Sie lacht und wirft ihre Haare zurück.

„Was macht sie denn in Selvadorada?“, frage ich verblüfft.

Sharon schüttelt den Kopf. „Ich glaube wieder irgendein Modeljob. War ziemlich kurzfristig.“ Sie äfft Shiranis Stimme nach: „Bitte, bitte Sharon. Nur zwei Wochen. Ich will nicht, dass das Haus über die Zeit leer steht. Hier sind so viele Einbrecher unterwegs.“ Sie grinst und deutet um sich. „Als ob hier jemand einbrechen würde! Hier ist doch nichts zu holen!“

Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen.

Sharon mustert mich von der Seite. „Sie ist eben viel unterwegs. Ich glaube sie hat bei der Bank einen Safe für ihre Wertsachen, Schmuck und so. Sie ist da irgendwie eigen.“

„Und sie ist jetzt zwei Wochen im Ausland? Für einen Modeljob?“, hake ich nochmal nach.

Sharon zieht die Augenbrauen hoch. „Keine Ahnung! Wie hat sie es doch gleich genannt? Irgendwas für ein Modemagazin glaub ich. Ist doch egal. Warum willst du sie denn so dringend sprechen?“

Ich muss jetzt aufpassen, was ich sage. Schon damals auf der Schule waren die Drillinge Sharon, Shelly und Shanna berüchtigt für ihren Klatsch und Tratsch, den sie gerne jedem unter die Nase rieben, der sie auch nur nett anschaute.

„Ach, ich wollte einfach nur mal vorbeischauen. Sie geht nicht an ihr Handy und hat auch nicht auf meine Nachricht reagiert. Da habe ich mir Sorgen gemacht.“

Sharon nickt. „Ja, in Selvadorada ist offensichtlich schlechter Empfang. Ich sage ihr, dass du da warst, wenn ich etwas von ihr höre, ja?!“

„Ja, danke, das ist nett.“ Ich stehe auf und gehe zur Tür. „Geht es dir denn sonst gut?“, frage ich.

Sharon lächelt. „Oh ja, alles super. Studium ist bald geschafft, dann geht es auf Jobsuche. Shirani hat uns schon in Aussicht gestellt, dass sie Papa eine eigene Wohnung kauft, wenn wir drei unseren Abschluss schaffen. Wir werden wahrscheinlich in Windenbug bleiben und übernehmen dann das Haus.“

„Das klingt doch super! Dann drücke ich die Daumen für die Prüfungen!“ Wir umarmen uns und ich trete hinaus. Es ist inzwischen schon dunkel geworden und ich ärgere mich, keine Jacke mitgenommen zu haben.

„Komm gut nach Hause, du hast es ja zum Glück nicht weit!“, ruft Sharon und winkt zum Abschied.


Fünf Minuten später erreiche ich das Grundstück von Dan und Kira. Als ich das Tor hinter mir schließe und den Weg zu meinem Haus einschlage, ist irgendetwas anders als sonst. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Im Haupthaus brennt oben Licht. Mein Blick fällt auf den Carport neben dem Haus. Davor steht ein Auto, das ich nicht kenne. Ich gehe näher und erkenne, dass es ein Nummernschild aus Veronaville trägt. Kira und Dan scheinen Besuch zu haben.

 

Da ich sie nicht stören möchte, verziehe ich mich in mein Häuschen. Ich bin erschöpft von der Arbeitswoche, freue mich aber aufs Wochenende. Während ich überlege, ob ich zuerst duschen oder mir etwas zu Essen machen soll, klingelt mein Telefon. Zu meiner Überraschung ist es Kira.

 

„Hey Joelle! Ich hoffe ich störe dich nicht. Ich habe nur gerade gesehen, dass du nach Hause gekommen bist und wollte dich einladen zu uns herüberzukommen. Dans Eltern sind zu Besuch, die kennst du doch auch noch von früher, oder?!“

Ich zögere. „Ich möchte euch wirklich nicht stören, ich…“

„So ein Unsinn, du störst doch nicht.“

„Und ich wollte mir eigentlich gerade etwas zu essen machen.“

„Wir haben zwar schon gegessen, aber es ist noch etwas übrig. Komm doch einfach rüber, wir sitzen hier ganz gemütlich zusammen.“ Kiras Stimme klingt so, als ob sie kein Nein dulden würde.

„Also gut. Ich mache mich nur noch kurz frisch, okay?“


Als ich das Haupthaus betrete, höre ich Kiras Lachen von oben aus dem Wohnzimmer. Es klingt etwas aufgesetzt und nervös. Bevor ich mich dazu entschließen kann die Treppe hinaufzugehen, entdecke ich Karl, der unter der Treppe sitzt und ganz offensichtlich lauscht.

Der Sohn von Kira und Dan ist schon im Schlafanzug und schaut mich verschmitzt an. „Opa und Oma sind da“, flüstert er und deutet nach oben. Dann legt er einen Finger an die Lippen. „Ich soll eigentlich ins Bett“.

Bei seinem Anblick muss ich mir ein Lachen verkneifen. Ich zwinker ihm zu und gehe die Treppenstufen hinauf.

Oben im Wohnzimmer ist das Licht gedämmt. Im Kamin lodert ein kleines Feuer und einige Stehlampen erleuchten die Sitzgruppe in der Mitte des Raumes. Auf einem der Sofas, mit dem Rücken zu mir, sitzt Kira. Ihr rotes Haar leuchtet intensiv im Schein des Kamins und bildet einen der wenigen Farbtupfer im Raum. Neben ihr sitzt eine ältere Dame, die offensichtlich gerade ausschweifend von einer Kreuzfahrt erzählt.

Ihnen gegenüber sitzt Dan, unruhig auf der Sitzkante des Sofas hin- und herrutschend. Und am Kamin steht ein älterer Herr und starrt ins Feuer. Ich bin mir nicht sicher, ob er der Kreuzfahrtgeschichte lauscht oder in Gedanken versunken ist.

"Joelle!" Dan springt auf, als hätte er nur auf mich gewartet. "Schön, dass du da bist. Setz dich doch bitte zu uns. Meine Eltern kennst du noch von früher?" Er ist auf mich zugeeilt und schiebt mich nun fast in die Mitte des Raumes.

Die ältere Dame wendet sich mir zu, einen verärgerten Ausdruck auf dem Gesicht, vielleicht da in diesem Moment ihre Ausführungen zum Speiseangebot auf dem Kreuzfahrtschiff unterbrochen werden.

"Du kennst doch noch meine Mutter Olivia -" Ich reiche ihr die Hand. "- und meinen Vater William?" Der Herr am Kamin hat sich nun umgedreht und mustert mich schweigend, während er meine Hand mit festem Griff umschließt. Er ist etwas größer als Dan und hat viel breitere Schultern. Obwohl ich ihm seit mehr als zehn Jahren nicht begegnet bin, scheint er keinen Tag gealtert zu sein.

"Möchtest du etwas essen?" Kira ist aufgestanden und schaut mich fragend an. "Wir sind zwar schon fertig, aber es ist noch etwas da. Ich müsste es nur kurz erwärmen."

"Das ist lieb von dir, aber nur keine Umstände bitte." Kira scheint fast etwas enttäuscht und ich versuche aus ihrem Gesicht zu lesen, was los ist.

Dan räuspert sich. "Setz dich doch, Joelle. Wir haben gerade über dich geredet."

"Über mich?" Ich sehe ihn überrascht an und setze mich zu ihm. Auch Kira lässt sich wieder neben Olivia nieder. Nur Dans Vater bewegt sich keinen Millimeter.

"Es ist nämlich so, dass meine Eltern uns heute mit einem Überraschungsbesucht beglückt haben und... nunja..." Er lächelt mich schief an. "Wir haben ihnen nie erzählt, dass du ins Gästehaus gezogen bist. Und so waren sie in der Annahme, dass sie wie immer bei uns übernachten können."

"Es geht doch nicht nur ums Übernachten", wirft Olivia ein. "William hat eine zeitlang hier geschäftlich zu tun und ich würde gerne in der Nähe meiner Enkelkinder sein."

"Wie wir schon besprochen haben, ist das ja auch kein Problem", dröhnt es vom Kamin. William lächelt seinen Sohn nachsichtig an. "Ich habe doch schon mit dem Büro telefoniert. Wir haben eine wunderbare Immobilie in Alt-Windenburg, die noch leer steht. Dort kann Joelle bis auf weiteres unterkommen."

"Und warum kommt ihr dort nicht unter und Joelle bleibt hier?" Kiras Stimme klingt fest, aber sie sieht dabei auf den Boden.

Dans Mutter schaut sie entgeistert an. "Wir sind gekommen, um eine Weile näher bei euch zu sein. Ich möchte dich mit den Kindern unterstützen. Wenn das nicht möglich ist, reisen wir eben wieder ab."

"Nein, das kommt natürlich nicht in Frage." Dan wirft Kira einen eindringlichen Blick zu. "Joelle, was meinst du? Das Haus, in das du für die paar Wochen ziehen könntest, wurde gerade frisch renoviert. Die Mieter ziehen aber erst in zwei Monaten ein. Es ist viel näher an deiner Arbeit und du wärst nicht mehr auf die Fähre angewiesen."

Ich nehme Dans bittenden Blick zur Kenntnis und mustere dann Kira, die mich entschuldigend anlächelt.

"Ja, natürlich. Das ist kein Problem. Ich bin hier ja auch nur Gast." Ich nicke Dans Eltern freundlich zu und sehe im Augenwinkel Dan erleichtert aufatmen.

"Gut, sehr schön. Du hast ja nicht viele Sachen. Ich könnte dich gleich rüberfahren."

"Jetzt gleich?", ruft Kira empört. "Nichts da. Deine Eltern können heute in unserem Bett schlafen, Dan. Wir schlafen auf der Luftmatratze. Es reicht, wenn Joelle morgen umzieht."

Olivia tätschelt Kira den Arm. "Ja, ist ja gut. So machen wir das. Es ist ja auch schon spät." Sie steht auf und klopft sich ihr Wollkleid ab. Dann wendet sie sich an mich. "Gute Nacht, Joelle. War schön, Sie mal wieder gesehen zu haben."

Auch Kira steht auf. "Komm, Joelle, ich bringe dich noch zur Tür."

Wir gehen schweigend die Treppe hinunter. Unten sehe ich noch Karls Rotschopf blitzschnell um die Ecke verschwinden. Kira öffnet die Tür und wir treten hinaus in die Dunkelheit.

"Tut mir Leid, wie es gelaufen ist", sagt sie und seufzt. "Dans Eltern sind sehr... fordernd."

Ich winke ab. "Ist doch alles gut. Wie gesagt, ich habe eure Gastfreundschaft lange genug genossen. Ich muss mir mal endlich eine eigene Bude suchen."

Kira macht große Augen. "Kommst du nicht hierher zurück, wenn die beiden wieder abreisen?"

Ich zucke mit den Schultern. "Kommt drauf an, wie schnell ich etwas finde."

"Aber wir sehen uns doch noch regelmäßig?" Sie sieht besorgt aus.

"Natürlich! Sag mal Kira, ist alles in Ordnung? Du wirkst so bedrückt."

"Ach ja? Nein, es ist alles in Ordnung. Ich mag nur keine Überraschungen und Dans Eltern sind nicht gerade eine schöne Überraschung." Sie fängt an zu flüstern. "Olivia ist eine Schreckschraube. Hat keine Ahnung von Kindern aber hält mir immer vor, was ich alles falsch machen würde." Sie seufzt. "Die nächsten Wochen werden anstrengend. Deswegen würde ich mich umso mehr freuen, wenn du uns mal besuchen kommst."

"Das mach ich."

Wir umarmen uns und Kira tritt wieder ins Haus. "Bis morgen, schlaf gut!"

Ich winke ihr noch einmal zu, dann schließt sie die Tür.