Kapitel 25: Schimmer


Leo hört auf zu lesen und ich öffne die Augen. Es ist, als würde ich aus einer Traumreise in die Vergangenheit aufwachen - ich brauche einen Moment, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen.

Vor uns auf dem Couchtisch stehen drei Becher mit Kaffee. Vinny sitzt wieder im Sessel rechts von uns, ich weiß nicht wie lange schon.

Leo räuspert sich, greift dann nach einem der Becher und trinkt einen großen Schluck. Ich merke wie Vinny uns von der Seite mustert, aber er wagt es offensichtlich nicht zu sprechen. Erst jetzt bemerke ich, dass Leo eine Träne über die Wange läuft. Er atmet tief durch und wischt sie sich dann mit einer schnellen Bewegung weg.

"Puh, das war hart." Er trinkt noch einen Schluck und sieht dann zu mir. "Total komisch, durch die Sicht eines anderen nochmal in die Vergangenheit katapultiert zu werden, oder?"

Ich nicke.

"Wusstest du, dass sie diesen Nebenjob in der Firma von Dans Vater hatte?"

"Das hatte ich vergessen", antworte ich leise. "Erst durch ihr Tagebuch kann ich mich jetzt wieder daran erinnern."

Vinny rückt unruhig auf dem Sessel hin und her. Dann räuspert er sich. "Leo? Als was hat dein Vater damals gearbeitet?"

Leo nickt. "Ja, der Punkt ist wirklich interessant. Sie wollte mich wegen der Expertise meines Vaters sprechen. Was habe ich diesen Moment all die Jahre nie aus meinem Kopf bekommen! Ich wollte immer wissen, was Clara von mir wollte, als wir keine Zeit für sie hatten." Er klopft nachdenklich mit den Fingern auf sein Knie.

"Und? Als was hat er denn gearbeitet?" Vinnys Ton wird schärfer.

"Hey, hey. Fahr mal runter, ja?" Leo hält inne und wirft Vinny einen warnenden Blick zu. "Wir wollen doch alle dasselbe, oder?"

Vinny lässt sich im Sessel zurückfallen und verschränkt die Arme, ohne Leo aus den Augen zu lassen.

"Mein Vater arbeitet immer noch im gleichen Job wie damals", antwortet Leo nun ruhig. "Er ist Verkäufer in einem kleinen Laden zwischen Windenburg und Brindleton Bay. Er verkauft lauter Elektronik-Zeugs, gebrauchte und Neuware."

So langsam schaltet sich auch mein Gehirn zurück von Autopilot in den Polizisten-Modus. "Das, was Clara da entdeckt hat in der Firma von Dans Vater gefällt mir gar nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es etwas mit ihrem Tod zu tun hat."

"Natürlich hat es etwas mit ihrem Tod zu tun!" Vinny springt auf. "Macht doch mal die Augen auf! Was glaubt ihr, warum ich nach Windenburg gekommen bin? Das war kein Unfall! Und umgebracht hat sie sich erst recht nicht! Da ist irgendwas faul in der Firma von Dans Vater. Ich habe versucht, seit ich hierhergezogen bin, an Informationen zu kommen. Aber ich bin an euch alle nicht rangekommen. Bis ich Joelle im Fitnessstudio getroffen habe." Seine Stimme wird nun weicher und er sieht mich an. "Ich gebe zu, am Anfang wollte ich mich nur mit dir anfreunden, damit ich über dich an die anderen rankomme, an Leo und Dan und Shirani und Kira. Aber dann..." Er stockt. "Dann habe ich erkannt, was für ein toller Mensch du bist! Und dass ich dich eigentlich gar nicht hintergehen will. Ich war wie zerrissen zwischen dem Wunsch, dem Tod meiner Schwester auf den Grund zu gehen und unserer Freundschaft."

"Du hast dich für Clara entschieden", stelle ich trocken fest.

Vinny will Widerspruch einlegen."Nein, so darfst du das nicht..."

"Lass gut sein Vinny." Ich wechsele einen kurzen Blick mit Leo, der mich besorgt ansieht.

"Hey Leute, wir wollen doch alle wissen, was mit Clara passiert ist, oder? Lasst uns zusammenarbeiten!" Leo sieht abwechselnd zu Vinny und mir. "Bitte! Das Tagebuch enthält viele Hinweise, denen müssen wir jetzt unbedingt nachgehen!"

Ich zucke mit den Schultern und schlucke schwer. In mir kämpfen lautstark Wut und Schmerz um meine Aufmerksamkeit, aber ich schiebe die Gefühle beiseite und versuche gleichzeitig Vinnys Worte auszublenden.

Leo startet einen weiteren Versuch, uns für die gemeinsame Sache zu begeistern: "Zu dritt bekommen wir sicher raus, was damals passiert ist! In welche Richtungen hast du denn schon recherchiert, Vinny?"

Vinny läuft nun im Raum auf und ab. "In viele, aber keine waren wirklich ergiebig. Ich habe mich dabei an die Anhaltspunkte im Tagebuch gehalten. Drei davon stechen sehr deutlich heraus, wie ich finde." Er bleibt stehen und sieht uns an. "Erstens, Claras Probleme mit Shirani durch die Freundschaft zu Tommy. Zweitens, Dans Mobbing hinsichtlich ihres Stotterns. Und drittens, die Vorkommnisse in der Firma von Dans Vater."

Leo nickt. "Ich stimme dir zu. Was hast du dann gemacht?"

"Zunächst einmal habe ich mir ein Jahrbuch eurer Schule besorgt, um eure vollen Namen herauszubekommen. In Claras Tagebuch stehen ja nur die Vornamen. Dann habe ich festgestellt, dass ich Shirani kenne. Als ich noch als Assistenz bei einem Modefotografen gearbeitet habe, war sie einmal bei einem Shooting dabei. Das habe ich als Chance gesehen, leichter an sie ranzukommen. Dem war dann aber nicht so. Als ich endlich ihre Adresse rausbekommen hatte, stellte sich heraus, dass sie vor kurzem umgezogen war. Die aktuelle kannte ich nicht."

"Auf die Insel", sage ich leise.

"Was?" Leo sieht mich irritiert an.

"Auf die Insel. Sie ist auf die Insel in die Nähe von Dan und Kira gezogen, kurz bevor ich nach Windenburg zurückgekommen bin."

Vinny nickt. "Genau! Das wusste ich aber zu dem Zeitpunkt noch nicht. Dann dachte ich, ich komme vielleicht über ihre Modelagentur an sie ran, aber auch da war Fehlanzeige."

"Warum?" Leo runzelt die Stirn.

"Ganz einfach, sie ist in keiner Agentur."

"Was?" Leo ist mindestens genauso verwundert wie ich. "Aber sie hat doch dauernd irgendwelche Jobs! Geht das denn überhaupt so ganz ohne Agentur?"

Vinny zuckt mit den Schultern. "Das geht schon, wenn man sich ein gutes Netzwerk aufgebaut hat." Er winkt ab. "Jedenfalls habe ich sie nicht gefunden und mich deshalb Dan zugewandt. Er war sehr viel leichter zu finden, sein Name ist überall im Internet, da er die Geschäfte der Firma seines Vaters weitgehend übernommen hat. Die Firma heißt inzwischen ImmoSul und hat Büros im ganzen Land. Ich weiß nicht alles aus dem Kopf, meine Unterlagen hab ich bei mir zu Hause." Er fährt sich nervös durchs Haar. "Jedenfalls ist das eine riesen Firma, das Büro in Windenburg scheint inzwischen auch viel größer zu sein als noch vor zehn Jahren. Allein dort arbeiten 12 Angestellte."

Vinny setzt sich wieder zu uns. "Da ich aber keinen Bezug zu Dan hatte, habe ich nicht versucht ihn direkt anzusprechen. Stattdessen habe ich für kurze Zeit eine der Angestellten gedatet."

Ich lache verächtlich und verdrehe die Augen. "Da hast du also schonmal geübt, wie man am schnellsten an Informationen kommt und Lügen auftischt, ja?!"

Vinny seufzt. "Joelle..."

Auch Leo sieht mich tadelnd an. "Wollten wir nicht sachlich bleiben?"

Ich würde jetzt am liebsten an die Decke gehen und meine ganze Wut herausschreien, reiße mich aber Leo zuliebe zusammen.

"Naja, jedenfalls... Durch die Dame habe ich herausbekommen, dass sich das Geschäftsmodell von ImmoSul in den letzen Jahren geändert hat. Früher hat die Firma marode Gebäude aufgekauft, schick saniert und teuer weiterverkauft. So ist sie zu viel Geld gekommen. Seit einigen Jahren gibt sie vor allem Neubauten in Auftrag."

"Ist dir irgendetwas bei deinen Recherchen zur Firma aufgefallen? Ich meine, diese Liste, die Clara in die Hände gefallen ist..."

Vinny unterbricht Leo. "Ich wusste nicht, wo ich da ansetzen soll. Ich habe natürlich versucht herauszubekommen, wo dein Vater arbeitet. Aber ich habe nirgendwo etwas über einen Herrn Kiebitz erfahren können."

Leo lächelt leicht. "Das liegt daran, dass mein Vater einen anderen Nachnamen hat. Meine Eltern sind nicht verheiratet und ich trage den Namen meiner Mutter."

Vinny nickt grimmig. "Da hätte ich also noch lange suchen können."

"Du hast also seit du in Windenburg bist, nichts herausfinden können?", frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch.

Vinny schaut geknickt und ich bereue sofort meinen schnippischen Tonfall. Auch der Blick, den Leo mir zuwirft, scheint zu sagen: "Echt jetzt?"

"Wie gesagt, das war alles nicht so einfach. Durch dich konnte ich immerhin das Vertrauen von Dan gewinnen..."

Er hebt einen Finger. "Aber einen guten Hinweis habe ich von der Angestellten bekommen. Ich habe sie einmal im Windenburger Büro abgeholt und mich gewundert, dass dort nirgendwo Aktenschränke stehen. Sie hat mir dann erklärt, dass sie seit einigen Jahren weitestgehend papierlos arbeiten und alles digitalisiert hätten. Alte Akten seien "beim Chef Zuhause". Ob sie damit Dan oder seinen Vater gemeint hat, weiß ich aber nicht."

"Sehr gut!" Leo nickt zufrieden. "Dann weiß ich auch schon, wie wir jetzt weiter vorgehen."


Als ich im Präsidium ankomme, überkommt mich eine unglaubliche Müdigkeit. Die Aussicht auf meine 9-Stunden-Schicht ist wenig verlockend. Hinzu kommt, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin. Die ganze Nacht haben Leo, Vinny und ich uns beraten, die nächsten Schritte geplant, Theorien hergeleitet und wieder verworfen. Nach zwei kurzen Stunden Schlaf im elterlichen Schlafzimmer von Leo bin ich ohne Frühstück losgegangen. Das rächt sich jetzt. Es ist 8 Uhr und mein Magen knurrt so laut, dass sich Kollege Merx am Nachbarschreibtisch verwundert zu mir umdreht.

Ich beschließe mir einen Snack aus der Cafeteria zu besorgen. Und Kaffee, der ist heute ganz wichtig.

Die Cafeteria im ersten Stock ist wie ausgestorben. Ich nehme mir ein Sandwich aus dem Kühlschrank und werfe ein paar Münzen in die Vertrauenskasse. Auf dem Weg zurück ins Büro mache ich noch am Kaffeeautomaten halt.

"Lux!" Hauptkommissar Thom steuert auf mich zu und mustert missbilligend das Sandwich in meinen Händen.

"Sie haben doch wohl nicht vor jetzt schon eine Pause einzulegen?"

Ich verneine und lächele ihn matt an. Zu mehr bin ich gerade nicht imstande.

"Kollegin Berger hat sich für diese Woche krank gemeldet. Sie übernehmen ihre Fälle."

"Alle?", frage ich schockiert.

Thom legt den Kopf auf die Seite. "Ja, alle. Von mir aus holen Sie sich Verstärkung bei den Kollegen. Aber ich will, dass Sie den Überblick behalten. Sie haben den Hut auf, Lux, verstanden? Und täglich ein Statusbericht an mich. Bis 16 Uhr."

Ohne meine Zustimmung abzuwarten, stapft er davon in Richtung Labor.

Lustlos greife ich nach meiner Kaffeetasse und trotte zurück an meinen Schreibtisch. In Natalies Ablage finde ich ihre aktuellen Fälle. Es sind fünf Akten. Seufzend greife ich danach und lege sie zu meinen anderen Fällen. Dann schalte ich den PC ein, beiße in mein Sandwich und spüle alles mit einem großen Schluck schwarzem Kaffee herunter.

Den Vormittag verbringe ich damit, mir einen Überblick über Natalies Fälle zu verschaffen. Einige davon kenne ich gut, weil ich an ihnen mitgearbeitet habe, in andere wiederum muss ich mich nochmal einlesen.

Nach der Mittagspause renne ich eigentlich nur zwischen Labor und Schreibtisch hin und her, schreibe Berichte und kann kurz vor Feierabend nur noch mit großer Mühe meine Augen offen halten.

Doch auch der Gedanke an Zuhause stimmt mich nicht froher. Denn Leo und Vinny haben wir einen Auftrag gegeben, der mir so gar nicht gefällt. Ich sehe ein, dass es gemacht werden muss, bedauere aber, dass ich diejenige bin, der diese Aufgabe zufällt.

So packe ich nur widerwillig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg zur Fähre.


Zuhause angekommen, stelle ich im Haus meine Sachen ab, ziehe mich um und mache mich dann auf den Weg zum Haupthaus.

Da ich am letzten Abend nicht Zuhause war, weiß ich nicht, ob Kira und Dan da sind. Manchmal gehen sie abends aus und eine Nanny passt auf die Kinder auf. Am Küchenfenster im ersten Stock brennt Licht.

Ich versuche so leise wie möglich die Haustür zu öffnen und schlüpfe hindurch. Durch den Bewegungssensor springt das Flurlicht an und ich zucke zusammen. Für einen kurzen Moment verharre ich und lausche. Nichts ist zu hören.

Mein Auftrag ist klar. Alte Akten von ImmoSul finden. Sie könnten hier im Haus sein oder bei Dans Vater. Die Chancen stehen 50:50. Ich blicke den Flur hinunter und stelle fest, dass ich nicht von allen Türen weiß, wohin sie führen. Dieses verdammte Haus ist einfach zu groß! Links geht es zu den Kinderzimmern und einem Bad. Rechts vermute ich das Schlafzimmer von Kira und Dan. Mir gefällt es gar nicht, dass ich im Haus meiner Freunde herumschnüffeln muss. Gleichzeitig habe ich aber auch kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, es nicht zu tun. Ich möchte sie lieber entlasten, als für immer und ewig mit einer Ungewissheit zu leben. Vorsichtig drücke ich die Klinke der rechten Tür hinunter und spähe hinein. Es ist tatsächlich das Schlafzimmer. Ich trete ein und blicke mich um. Doch schon nach einem Blick ist mir klar, dass hier nichts zu finden ist.

Soweit ich weiß, hat Dan hier im Haus auch ein Arbeitszimmer. Aber wo? Ich trete zurück auf den Flur und schleiche am Treppenaufgang vorbei. Von oben höre ich nun Geräusche aus der Küche, es klingt nach den Zwillingen. Die bekommen wahrscheinlich gerade ihr Abendessen.

Die nächste Tür auf der rechten Seite ist breit und schwer. Ich öffne sie langsam, trete ein und schaue mich verdutzt um. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Ich befinde mich in einem kleinen Kinosaal, Wände und Boden leuchten blau, schwarze Sessel stehen aufgereiht vor einer riesigen Leinwand.

Enttäuscht sehe ich mich um. Wo könnte das Arbeitszimmer sein? Fieberhaft gehe ich den Grundriss des Hauses durch. Oben befinden sich der Wohnraum und die Küche, außerdem zwei Terrassen. Es muss also hier unten sein.

Ich will gerade wieder die Tür zum Flur öffnen, da höre ich eine Stimme von der anderen Seite. Die Haustür fällt ins Schloss und die Stimme kommt näher.

"Ja, ich bin jetzt Zuhause, ich kann gleich in den Unterlagen nachsehen." Es ist Dans Stimme, er scheint zu telefonieren. "Jaja, ich maile sie dir dann. Ist gut. Ja. Okay, bis dann!"

Ich mache einen Schritt zur Seite und lehne mich neben die Tür an die Wand. Dans Schritte kommen näher, dann werden sie wieder leiser. Den Geräuschen nach zu Urteilen ist er nicht die Treppen nach oben gelaufen, sondern weiter den Flur runter.

Mein Herz klopft nun etwas schneller. Was soll ich tun? Ich zwinge mich dazu wie eine Polizistin zu denken. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen, das Adrenalin erweckt meinen Geist aus dem Tiefschlaf. Langsam öffne ich die Tür, spähe in den Flur und verlasse dann das Heimkino. So leise wie möglich schließe ich die Tür hinter mir und wende mich dann nach rechts. Hier geht es soweit ich weiß zum Barraum und zur Terrasse im Erdgeschoss. Doch versteckt hinter einer riesigen Topfpflanze führt überraschenderweise ein verwinkelter Gang zu zwei weiteren Türen. Während ich noch überlege, hinter welcher Tür Dan wohl verschwunden ist, öffnet sich die linke mit einem Ruck und Dan tritt hinaus. In der Hand hält er mehrere Blätter Papier. Ich will mich mit einem Sprung hinter die Topfpflanze retten, aber da hat er mich schon bemerkt.

"Hallo Joelle, was machst du denn hier?"

"Ich... wollte mal schauen wer von euch da ist."

Dan fährt sich mit den Fingern durchs Haar. "Kira müsste mit den Kindern oben sein. Tut mir Leid, ich bin quasi noch im Dienst." Er wedelt mit den Papieren. "Muss noch ein bisschen weiter arbeiten, aber vielleicht sehen wir uns nachher beim Abendessen?"

Ich lächle breit. "Ja, gerne. Ich sag mal Kira hallo." Dan nickt und ich wende mich zum Gehen. Ein Blick zurück über die Schulter verrät mir, dass er hinter der zweiten Tür verschwindet.

Ich atme tief durch und mache mich dann auf den Weg nach oben. Dan scheint nichts bemerkt zu haben. Hoffentlich.

In der Küche finde ich tatsächlich Kira mit den Zwillingen. Kai sitzt mit ihnen am Tisch und scheint Hausaufgaben zu machen.

"Joelle!" Kira strahlt, als sie mich sieht. "Schön, dass du vorbeischaust. Dich bekommt man ja in letzter Zeit immer seltener zu Gesicht." Sie rückt den Stuhl neben sich zurück und ich setze mich zu ihr.

"Vinny hat gestern bestimmt mit dir gefeiert, oder?"

"Was?" Ich sehe sie verwirrt an.

Kira zieht die Augenbrauen hoch. "Oder hat er es dir etwa nicht erzählt? Ich hab es von Merlin erfahren. Vinny hat doch den Foto-Job für die neue Webseite des LaLiz bekommen!"

"Achso, jaaa, genau, wir haben gestern darauf angestoßen." Ich lächle, innerlich aber kämpfe ich mit mir. Der Moment ist noch nicht einmal 24 Stunden her, kommt mir aber wie eine Ewigkeit vor. Wenn Vinny den Job nicht bekommen hätte, hätte ich nicht nach der Sektflasche gesucht. Und dann hätte ich nicht das Foto von ihm und Clara gefunden. Ich wäre nicht zu Leo gerannt und Vinny hätte uns nichts vom Tagebuch erzählt. Vielleicht hätte ich nie davon erfahren.

"Erzähl, wie geht es dir? Du siehst müde aus." Kira sieht mich besorgt an.

"Ach, das macht die Arbeit. Alles gut soweit." Ich lächle tapfer weiter und Kira scheint es mir abzunehmen. Sie fragt zumindest nicht weiter danach.

Nina und Tina beginnen zu quengeln und Kira wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. "Die zwei müssen ins Bett. Aber warum kommst du nicht in einer Stunde wieder rüber? Ich habe einen Auflauf vorbereitet, den schiebe ich jetzt in den Ofen."

"Danke, das ist lieb von dir. Ich komme gerne zum Abendessen".

Ich helfe Kira die Zwillinge nach unten zu bringen und verabschiede mich.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gehe ich zu meinem Haus hinüber. Es ist komisch mit Kira zu reden und dabei Claras Tagebuch im Kopf zu haben. Kira war damals leicht zu beeinflussen, ist es vielleicht heute noch. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass sie etwas mit Claras Tod zu tun hat.


Ich sitze auf meinem Balkon und nippe an einem Becher Kaffee. Es ist inzwischen nach 23 Uhr und das Licht im Erdgeschoss des Haupthauses immer noch nicht erloschen.

Schon während des Abendessens mit Kira und Dan war ich angespannt. Dan musterte mich ein paar Mal von der Seite, sagte jedoch nichts. Wir plauderten über Merlin und das LaLiz, Dan bat mich, Grüße und Glückwünsche an Vinny auszurichten.

Kira verabschiedete sich ins Bett, als ich ging, aber Dan ist anscheinend immer noch wach. Ich lasse meinen Blick über das Haupthaus schweifen, über das Meer in der Ferne und schließe die Augen. Vielleicht sollte ich es besser morgen nochmal versuchen. Ich bin einfach zu müde, um noch länger durchzuhalten. Zwei Stunden Schlaf während der letzten 24 Stunden sind einfach zu wenig. Ich öffne die Augen und stutze. Es ist dunkel. Das Licht im Erdgeschoss des Haupthauses ist erloschen.

Ich trinke den Kaffee in einem Zug aus und betrachte dabei weiter das Haus. Drinnen ziehe ich mir eine schwarze Mütze über und greife nach meiner Taschenlampe. Unten vom Küchenfenster aus beobachte ich noch eine Weile das Haupthaus. Alle paar Minuten blicke ich auf die Uhr. Dan könnte jetzt im Bett liegen.

Ich schleiche nach draußen und laufe mit schnellen Schritten dem Haupthaus entgegen. In den letzten drei Stunden habe ich mir einen Plan zurechtgelegt, den gilt es jetzt umzusetzen.

Die Haustür auf der Vorderseite könnte immer noch offen sein, soweit ich weiß schließen die beiden sie nur selten ab. Immerhin ist das Tor vorne Tag und Nacht verschlossen. Doch ich werde einen anderen Weg wählen, um weniger Risiko einzugehen. Meine Sorge ist das Licht im Flur, das durch den Bewegungssensor anspringt, sobald man durch die Tür tritt.

Und so laufe ich rechts am dunklen Haus vorbei, lasse den Weg zum Strand rechts liegen und biege um die Ecke auf die Terrasse. Meine Schuhe verursachen leise Geräusche auf den Holzdielen und ich verlangsame meinen Schritt.

Die Terrassentür lässt sich ganz leicht zur Seite schieben, lautlos trete ich in den Flur. Das Licht bleibt aus. Erst jetzt bermerke ich, dass ich die Luft angehalten habe.

Nach zwei tiefen Atemzügen lausche ich. Alles ist still.

Ich laufe den kurzen Gang hinunter, der zu den zwei Türen führt. Ein weiteres Mal lausche ich angestrengt, dann öffne ich vorsichtig die linke Tür. Drinnen ist es finster, aber von draußen scheint der Mond hinein. Das Zimmer ist quadratisch und vollgestellt mit Regalen. Ich hole meine Taschenlampe hervor und schalte sie ein. Mit dem Leuchtkegel fahre ich die Regalreihen entlang. Das hier scheint tatsächlich das Archiv von ImmoSul zu sein. Die Regalbretter sind nicht beschriftet, dafür aber die Ordner, die darauf stehen. Das Licht erlischt. Ich fluche lautlos und schüttele die Taschenlampe, aber es ist vergeblich. Die Batterien sind leer. Am Fenster entdecke ich einen kleinen Beistelltisch mit einer Lampe. Ich überlege einen Moment, dann knipse ich sie an. Das schwache Licht reicht immerhin soweit, dass ich die Ordner-Beschriftungen lesen kann, wenn ich nur nah genug herangehe.

Da ich nicht weiß, wonach genau ich suchen soll, orientiere ich mich zunächst an den Jahreszahlen auf den Ordnern. Nach etwa drei Minuten habe ich das Regal gefunden, dass in die Zeit unseres Schulabschlusses fällt. Konzentriert lese ich die Ordnerbeschriftungen.

 

Ausschreibungen

Buchhaltung 1. Quartal

Buchhaltung 2. Quartal

Buchhaltung 3. Quartal

Buchhaltung 4. Quartal

Kontoauszüge Januar-März

Kontoauszüge April-Juni

Kontoauszüge Juli-September

Kontoauszüge Oktober-Dezember

Personal

Sanierung Alte Jakobstraße 5

Sanierung Brückenweg 33b

Sanierung Fabrik N

Sanierung Fischerinsel 14

Sanierung und Neubau Heuerallee 55

Sanierung Pinienring 3

SecuritasSul

Sitzungsprotokolle

Verträge A-L

Verträge M-Z

Windenburg Grundstücksamt

 

In meinem Kopf arbeitet es. Immer wieder fahren meine Augen die Regalreihen entlang. Wo könnte die Liste sein, die Clara in die Hände gefallen ist? Ich schlage den Ordner vom Grundstücksamt auf. Adressen und Zahlen, das könnte passen. Ich blättere durch den Ordner. Grundrisse, Formulare, noch mehr Grundrisse, Schriftwechsel mit dem Amt. Keine Liste.

Als ich den Ordner zurückstelle, bleibt mein Blick an einem schwarzen Ordner hängen. SecuritasSul. Ich hole ihn hervor und schlage ihn auf. Die Firma verbaut ganz offensichtlich die Sicherheitstechnik in den Häusern. Lange betrachte ich das Logo der Firma. Wieso kommt mir das so bekannt vor? Ein grünes S auf weißem Grund, im Hintergrund die einfache Strichzeichnung eines Hauses. Mich ärgert es, dass mir nicht einfällt, wo ich das Logo schon einmal gesehen habe.

Ich blättere weiter. Und da. Ganz hinten, einmal zusammengefaltet, gelocht und eingeheftet: eine Liste. Adressen und Zahlen. Nichts weiter steht darauf, kein Datum, nichts. Ich hefte das Blatt aus, stelle den Ordner zurück ins Regal und lösche das Licht. Für heute habe ich meinen Auftrag erfüllt, jetzt nichts wie weg hier. Ich lausche an der Tür, alles ist ruhig. Kurz schließe ich die Augen, verlangsame meine Atemzüge und trete dann wieder hinaus in den Gang. Ich komme bis zur Terrassentür, dann höre ich, wie eine Tür in der Nähe geöffnet wird. Ich erstarre und blicke mich um.

Schritte schlurfen den Flur entlang, der Bewegungssensor lässt die Deckenlampen anspringen. Vorsichtig gehe ich rückwärts zwei Schritte zurück in den Gang und trete hinter die Topfpflanze.

Ich höre die Schritte nach oben verschwinden, die Treppe hinauf und mein Herzschlag beruhigt sich wieder. Ich will schon wieder aufstehen, da fällt mir ein, dass ich von den Fenstern im ersten Stock aus gesehen werden könnte. Kira oder Dan, wer auch immer gerade nach oben gelaufen ist, könnte mich mit einem Blick aus dem Fenster leicht entdecken wie ich zurück zu meinem Haus laufe. Der Mond scheint hell diese Nacht.

Von oben höre ich Gläserklirren. Dann geht der Wasserhahn an. Ich beschließe zu warten und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand. Vorsichtig taste ich unter mein Shirt und versichere mich, dass die Liste noch da ist. In diesem Moment fällt mir ein, dass etwas anderes fehlt. Die Taschenlampe! Ich habe sie im Archivraum vergessen!

Innerlich fluchend rappele ich mich auf und schleiche zurück zum Archiv. Leise öffne ich die Tür, schlüpfe hindurch und versuche mich zu erinnern, wo ich die verdammte Taschenlampe abgelegt habe. Ich kneife meine Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Da! Auf einem Regalbrett liegt die Lampe. Ich schnappe sie mir und stecke sie in meine Hosentasche. Dann luke ich vorsichtig aus dem Raum in den dunklen Gang. Eine Diele knarzt, als ich nach draußen treten will. Ich höre Schritte von oben kommen, die plötzlich inne halten. Langsam bewege ich mich zurück in den Raum hinein und die Diele knarzt ein weiteres Mal. Schritte sind wieder zu hören. Schritte, die nun näher kommen. Panisch blicke ich mich im Archiv um. So leise und schnell wie möglich bewege ich mich an den Regalreihen vorbei in die hinterste Ecke des Raumes und kauere mich an ein Regalende.

Kurz darauf wird die Tür weit geöffnet und eine Gestalt erscheint im Türrahmen. Es sind zu viele Regale im Weg, als dass ich genau erkennen könnte, wer es ist. Die Gestalt macht einige Schritte in den Raum hinein und scheint zu lauschen. Ich halte die Luft an und verharre bewegungslos hinterm Regal. Dann macht die Person langsam kehrt und schließt die Tür hinter sich.

Ich atme lange aus und versuche meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Angestrengt horche in die Stille hinein. Aber ich höre keine Schritte. Steht der jemand etwa noch vor der Tür? Ich lausche weiter, aber es ist nichts zu hören. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, bis ich mich endlich langsam erhebe. Ich schleiche zur Tür, immer darauf bedacht, die knarzende Diele nicht ein weiteres Mal zu betreten. Der Blick durchs Schlüsselloch in die Dunkelheit ist wenig ergiebig. Langsam drücke ich die Klinke hinunter und öffne die Tür. Der Gang ist leer. Ich trete hinaus und schließe die Tür hinter mir.

Endlich im Freien, schlägt mir vom Meer aus kühler Wind entgegen. Ich ziehe die Terrassentür zu und schleiche erst geduckt an der Fassade entlang, dann am Grundstückszaun, vorbei am Strand-Schleichweg. Erleichtert errreiche ich meine Haustür, ein Blick zurück zum dunklen Haupthaus beruhigt mich. Erschöpft lasse ich mich drinnen auf die Couch fallen, hole die Liste unter meinem Shirt hervor und überfliege sie im Halbdunkel. Dann schreibe ich Leo eine SMS, lege die Liste hinter das Sofakissen und schließe die Augen. Dann schlafe ich endlich ein.