Kapitel 4: Nacht


Nach der Arbeit begebe ich mich auf direktem Weg zu Leo nach Hause. Die Abenddämmerung hat bereis eingesetzt und taucht das Haus seiner Eltern in einen Halbschatten.

Die letzten Stunden auf dem Präsidium war ich mit den Gedanken schon ganz woanders. Dass ich gleich wieder Leo begegnen würde, ließ mein Herz schneller schlagen.

Ich klopfe an seine Haustür und merke wie auch jetzt wieder mein Puls in die Höhe schießt. Ob Leo mich überhaupt sehen will? Doch es bleibt keine Zeit für einen Rückzieher, denn die Tür öffnet sich und Leo steht vor mir. Ich meine im ersten Moment einen Hauch von Überraschung in seinem Blick erkennen zu können, doch schon kurz darauf erlischt das Funkeln in seinen Augen und er tritt stumm beiseite, um mich hineinzulassen.

"Hallo Leo, schön, dass ich dich antreffe", sage ich leise und folge ihm dann an den Küchentisch.

Er mustert meine Polizeiuniform. "Du hast also die Wahrheit gesagt. Polizistin..."

Ich runzele die Stirn. "Warum sollte ich dich anlügen?"

Leo schnaubt verächtlich. "Ihr lügt doch alle! Eine verdammte, verlogene Bande ist aus euch geworden..."

"Ach Leo..." Ich atme einmal tief durch und schaue ihm dann solange direkt ins Gesicht, bis auch er mir in die Augen schaut. "Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du redest. Deswegen bin ich hierher gekommen, damit du mir erklären kannst, was los ist mit dir. Ich will dir doch nichts böses, ich will dich nur verstehen!"

Erst schaut er mich nur stumm an, dann antwortet Leo leise: "Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Bei den anderen habe ich dauernd dieses blöde Gefühl, dass sie ganz genau wissen, was Sache ist, aber nicht mehr daran denken wollen."

Ich zögere. "Es geht doch um Clara, oder?"

"Natürlich geht es um Clara!" Leo haut mit der flachen Hand auf den Tisch, sein Gesicht ist nun wutverzerrt. "Es macht mich rasend, dass ihr das alles vergessen habt. Dass ihr nicht mehr an sie denkt, geschweige denn irgendeine Form von Schuldgefühlen empfindet."

Ich habe Leo noch nie so wütend gesehen und lehne mich eingeschüchtert auf meinem Stuhl zurück. Leo bemerkt meine Unsicherheit und seufzt einmal tief. "Tut mir Leid, aber ich kann einfach nicht glauben, dass du überhaupt keinen Schimmer hast, warum mich das so beschäftigt."

"Dann erkläre es mir doch bitte!", flehe ich ihn leise an und beuge mich wieder etwas nach vorn. "Das mit Clara war ein Unfall. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir uns damals geschworen haben, diese schreckliche Nacht hinter uns zu lassen..."

Leo schüttelt bei meinen Worten mit dem Kopf. "Das war kein Unfall, da bin ich mir inzwischen sicher! Und schwören kann man sich vieles, aber was mich angeht - vergessen habe ich diese Nacht ganz sicher nicht!"

"Ich schon...", kommt es flüsternd aus meinem Mund.

Leo starrt mich an. "Meinst du das ernst?"

Ich nicke. "Ich kann mich wirklich an keine Details mehr erinnern. Aber es ist ja nun auch schon 10 Jahre her."

In Leos Blick erkenne ich Unverständnis. Und Skepsis.

"Wie kannst du dich an diese verdammte Nacht nicht mehr erinnern?" Und dann beginnt er leise zu erzählen...


"Wir haben uns abends in der Bucht getroffen, an den Klippen. Wir wollten unseren Schulabschluss feiern, die letzte Prüfung lag gerade mal einen Tag zurück. Dan hatte die Party organisiert, das Haus seiner Eltern lag direkt an der Bucht und er hatte sturmfrei. Als es dunkel wurde, sind wir zusammen runter zum Strand gegangen."

"Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Tommy hatte Musik aufgelegt, es gab ein tolles Lagerfeuer und Dan hatte für ausreichend Getränke gesorgt."

"Wir zwei haben uns dann ziemlich schnell an den Steg zurückgezogen. Naja, wir waren eben frisch verliebt. Ich hatte den ganzen Abend nur Augen für dich."

"Irgendwann sind wir dann doch mal zu den anderen gegangen. Wir haben am Feuer getanzt und ausgelassen gefeiert."

"Es wurde immer später, wir beide haben weiter rumgeknutscht. So haben wir auch nicht mitbekommen, dass sich die Runde verstreut hatte. Als wir nämlich wieder mal zu den anderen gingen, waren Dan, Clara und Kira nicht mehr da."

"Ich weiß auch nicht mehr so richtig, was dann war... Ich glaube wir haben eine ganze Menge getrunken, Tommy hatte uns ein Trinkspiel erklärt, das wir ausprobieren wollten. Und dann, naja - das musst du aber doch noch wissen! - sind wir im Gebüsch verschwunden.... für eine ganze Weile..."

"Und dann weiß ich nur noch, dass plötzlich Tommy und Merlin hysterisch rumgebrüllt haben. Wir sind dann zu ihnen hin und Shirani und Dan kamen auch angerannt... und dann... hab ich Clara gesehen. Sie trieb im Wasser. Und hat sich nicht mehr bewegt. Dann ist sie ganz langsam untergegangen. Ich hab noch das Bild vor Augen...als wäre es gestern gewesen."


Leo stockt. Dann steht er abrupt auf und wendet sich von mir ab. Zögernd stehe ich auf und stelle mich neben ihn.

"Leo, aber das war doch ein Unfall. Clara ist in der Dunkelheit von den Klippen gestürzt, die Polizei hat einen hohen Alkoholwert in ihrem Blut festgestellt..."

"Nein!", brüllt Leo und beginnt zu schluchzen. "Das war kein Unfall."

"Was war es dann?"

Leo wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und sieht mich wieder an. "Es war Selbstmord."