Kapitel 11: Glut


"Lux! Kollege Merx hat sich für diese Woche krank gemeldet, Sie übernehmen die Fortführung des Falles Carlos."

Hauptkommissar Thom sitzt erst seit fünf Minuten an seinem Schreibtisch und hat schon jeden Kollegen mindestens einmal zu sich gerufen, um einen Arbeitsauftrag nach dem anderen zu verteilen.

Eifrig mache ich mir Notizen zu den ganzen Anweisungen, die Thom wie aus der Pistole geschossen herunterleiert und schleppe mich dann zurück zu meinem Schreibtisch.
Ein Gähnen unterdrückend schnappe ich mir auf dem Weg dorthin die Fallakte und überfliege schon im Gehen das Wichtigste. Bei der Familie Carlos ist vor drei Wochen eingebrochen worden, kurz vor meiner Ankunft in Windenburg. Der Einbruch geschah während die Familie verreist war. Gestohlen wurde ein Flachbildfernseher (46 Zoll), Gold- und Silberschmuck (Erbstücke von der Urgroßmutter), zwei kleine Gemälde (gemalt von der Schwester von Frau Carlos, wohl fälschlicherweise für wertvoll erachtet) sowie Bargeld in Höhe von 1.500 Simoleons, das in einem Tresor gesichert war.

In der Akte steht, dass Herr Carlos einer Vorladung ins Präsidium noch nicht nachgekommen ist. Er muss noch seine Aussage unterschreiben, die am Tag nach dem Einbruch bei ihm Zuhause aufgenommen wurde.

Ich greife zum Hörer und wähle seine Nummer. Es läutet zweimal, dann meldet sich eine tiefe Männerstimme.

"Carlos."

"Guten Morgen Herr Carlos. Mein Name ist Joelle Lux, Kriminalkommissariat Eigentumsdelikte Windenburg. Es geht um den Einbruch in Ihrem Haus."

Herr Carlos gibt ein Brummen von sich. "Und?"

"Sie haben doch eine Aussage gemacht und wollten Strafanzeige gegen Unbekannt stellen. Dazu müssten Sie bitte aufs Präsidium kommen und die Unterlagen unterschreiben. Die entsprechende Einladung sollten Sie erhalten haben."

"Jaja, hab ich. Haben Sie denn schon was ermittelt? Haben Sie einen Verdächtigen?" Er klingt genervt - und das am frühen Morgen. Definitiv kein gutes Zeichen.

"Dazu müssten Sie bitte zuerst die Unterlagen unterschreiben. Der Termin war letzte Woche."

"Sie haben jetzt drei Wochen nichts gemacht? Der oder die Täter sind doch schon längst über alle Berge!" Seine Stimme wird lauter.

"Herr Carlos, bitte kommen Sie einfach diese Woche zu uns und unterzeichnen Sie..."

"Nicht zu fassen! Das ist doch jetzt sowieso aussichtslos! Da kauft man sich erst eine Alarmanlage, weil der Eigentümer zu dumm ist selbst eine zu installieren und dann funktioniert die noch nicht mal! Und dann kommen Sie daher, nehmen meine Aussage auf und machen - nichts?!"

Ich versuche noch drei Anläufe und weise ihn freundlich darauf hin, dass er doch bitte seine Aussage und die Strafanzeige unterschreiben soll. Erst als ich erwähne, dass auch die Versicherung nach seiner Aussage fragen wird, gibt er nach und vereinbart einen Termin für Donnerstag.

Erschöpft lege ich nach 20 Minuten auf und hinterlege kopfschüttelnd eine Aktennotiz. Und dabei hatte ich gedacht, dass ich mich nach meiner Arbeit in Downtown nie wieder mit solchen Trotteln auseinandersetzen muss.

Noch vor der Mittagspause leite ich eine Vernehmung im Fall eines Kleinkriminellen, der beim Einstieg in eine Wohnung in der Neustadt erwischt wurde. Nach einer Stunde freue ich mich zwar über das Geständnis des jungen Mannes und seine Kooperationsbereitschaft, bin aber auch todmüde.

Ich will mich grade auf den Weg in die Kantine machen, um meine Laune mit jeder Menge Nachtisch zu aufzubessern, da betritt plötzlich Kelly den Raum. Ihre Schicht scheint gerade zu Ende zu sein, denn sie hat schon ihre Sportklamotten an und ist wohl auf dem Weg in den Trainingsraum.

"Hey Joelle! Schön, dass ich dich hier erwische! Herr Thom sprach mich grade an - wir bekommen doch nächste Woche Verstärkung aus Veronaville und es werden noch Schlafplätze für die beiden neuen Kollegen gesucht. Ich such mir was Neues, damit sie ins Polizeihaus ziehen können. Das ist ja sowieso nur für den Übergang gedacht. Meinst du, du findest auch was anderes? Sonst gibt es sicher noch eine andere Möglichkeit für die Neuen."

Noch während Kelly spricht, fallen mir Kira und Dan ein. Ihr Gästehaus. Sie haben es angeboten, warum also nicht?

"Danke Kelly. Ich glaube, ich habe da schon was im Kopf. Wenn ich mehr weiß, gebe ich Thom Bescheid."

Wir wechseln noch ein paar Worte, dann verschwindet Kelly im Sportraum und ich in der Kantine.

 

Meine restliche Arbeitszeit verbringe ich mit der Aktualisierung von Fallakten und Meetings. Völlig erschöpft packe ich um 17 Uhr meine Sachen zusammen und will mich auf den Weg nach Hause machen, als ich eine SMS bekomme. Sie ist von Vinny.

"Hey Joelle, ich bin gleich im Fitnessstudio. Hast du Lust auf ein bisschen Afterwork-Training?"

Der Gedanke an Vinny führt seltsamerweise dazu, dass ich mich gleich viel wacher fühle. Und meine verspannten Muskeln könnten sicherlich ein bisschen Bewegung vertragen.

Ich sage zu, hole die Sportklamotten aus meinem Spind und mache mich los zum Studio.

Dort erwartet mich Vinny bereits im Aufenthaltsbereich.

"Hi, schön, dass es geklappt hat!" Er umarmt mich kurz und strahlt. "Worauf hast du Lust? Ausdauer oder Kraft?"

Ich wiege den Kopf hin und her. "Ich habe gerade gesehen, dass gleich ein Yogakurs beginnt. Was hälst du davon?"

Vinny lacht. "Yoga? Ich wollte eigentlich trainieren. Aber wenn du meinst..."

Der wird sich noch umgucken, denke ich und verschwinde in den Umkleidekabinen.

Der Kurs ist schlecht besucht, sodass uns die Yoga-Lehrerin quasi eine Privatstunde gibt. Während ich immerhin noch versuche, ihren Anweisungen Folge zu leisten, scheitert Vinny schon an den einfachsten Übungen.

Zwischendurch wechseln wir kurze Blicke und brechen immer wieder in Lachen aus, was die Trainerin ungerührt hinnimmt.

Nach dem Kurs beschließen wir noch kurz zu quatschen. Wir holen uns Tee und Kaffee, setzen uns in den Aufenthaltsraum und rekapitulieren dabei immer noch kichernd die besten Momente der Yoga-Stunde.

"Und dann hat sie ihr Bein gehoben! Hast du das gesehen? Das kann doch kein Mensch!"

"Für mich sah sie aus wie ein Mensch."

"Sie könnte doch auch ein Alien sein!"

"Ach Quatsch, die gibt es nicht... Genauso wenig wie es Vampire und Geister gibt."

Erst als es halb neun ist verlassen wir zusammen das Studio und verabreden uns für das Ende der Woche zum Training.


Als ich am Mittwochmorgen eine SMS von Kira bekomme, die mich zu ihrer kleinen Grillparty einlädt, bin ich den Tag über unruhig und kann mich nur schlecht konzentrieren. Der Gedanke, dass ich am Abend wieder auf meine alten Freunde treffen werde, denen Leo so viel schlechtes zutraut, macht mich ganz wuschig. Ich muss ihm endlich das Gegenteil beweisen. Und ich weiß auch schon, bei wem ich ansetzen werde.

Pünktlich um 18 Uhr klingele ich bei Dan und Kira. Der Grill ist bereits in vollem Gange und auch Merlin und Shirani sind schon da.

Merlin begrüßt mich sogleich und bedankt sich nochmal für meinen Besuch im La Liz.

"Ich hoffe euch hat es gefallen. War das Essen zu deiner Zufriedenheit?"

"Es war köstlich, danke Merlin!" Dass ich von den kleinen Portionen nicht satt geworden bin, lasse ich lieber unerwähnt.

"Und wie heißt dein Freund gleich nochmal? Vincent?"

"Vinny. Er ist mein Trainingspartner."

"Ach ja, Trainingspartner..." Merlin schmunzelt und zwinkert mir zu. Ich will nicht weiter darauf eingehen, aber Shirani scheint mit halbem Ohr mitgehört zu haben.

"Du hast jemanden kennengelernt? Los, erzähl schon!"

Ich winke ab. "Das ist nur jemand, mit dem ich mich jetzt öfter im Fitnessstudio treffe, weiter nichts."

Shirani will weiter bohren, aber Kira kommt mir zu Hilfe. "Shirani, du warst doch letztens in Newcrest. Wie war dein Shooting?"

Glücklicherweise springt sie drauf an und erzählt lang und breit, welche Kleider sie trug und zu welchen Partys sie eingeladen wurde.

Nach dem Essen nutze ich die Gelegenheit, mich mit Merlin etwas abseits auf eine Sitzgruppe zu setzen. Wir haben freien Blick auf die Klippen und das Meer.

"Schon komisch, dass Dan und Kira hier wohnen, oder?", beginne ich das Gespräch.

Merlin sieht mich irritiert an. "Wieso?"

"Naja...", ich zögere, gehe dann aber in die Vollen. "Hier ist Claras Unfall passiert vor 10 Jahren. Ich weiß nicht, ob ich hier leben könnte, jeden Tag mit dem Blick auf diesen Ort."

"Wir wollten das doch alles vergessen, Joelle." Er seufzt und reibt sich an der Stirn.

"Ich weiß. Aber seit ich hier bin, muss ich wieder an sie denken. Und an den Abend damals. Es war doch ein Unfall, oder?"

Merlin schweigt und blickt aufs Meer. Dann schließt er die Augen und schüttelt den Kopf. "Was soll es sonst gewesen sein? Und warum fragst du mich das? Das Ganze ist jetzt schon so lange her und die Polizei hat gesagt, es war ein Unfall. Warum sollte ich das anzweifeln?"

Weil du damals ausgesagt hast, dass es Selbstmord gewesen sein könnte, denke ich, spreche es aber nicht laut aus.

"Ich muss auch oft an uns früher denken. Kira hat doch zu meiner Willkommensparty alte Fotos mitgebracht. Da sind viele Erinnerungen an uns hochgekommen. Ich fange an mir Vorwürfe zu machen, dass wir Clara nicht gut genug in unsere Clique integriert haben könnten."

"Was?", fährt Merlin mich an. "Du machst dir Vorwürfe? So ein Unsinn! Clara hatte doch immer Spaß mit uns. Und die Party lief doch super an diesem Abend."

"Ach ja? Kannst du dich noch so gut daran erinnern?"

"So gut wie es eben geht nach all der Zeit."

"Ich weiß gar nicht mehr so viel. Woran kannst du dich erinnern?"

"Ich weiß noch, dass Tommy, Dan und ich uns hier früher am Abend getroffen haben, im Haus von Dans Familie."

"Wir haben ein bisschen vorgeglüht und uns auf die Party eingestimmt. Ich glaube Tommy hat mal wieder von seinen neuesten Eroberungen berichtet und dass er ein Angebot aus San Myshuno hat, von einem E-Sportler-Team. Da haben wir natürlich sofort drauf angestoßen."

"Dann seid ihr anderen gekommen, wir sind runter zum Strand und die Party ging so richtig los."

"Ich war die meiste Zeit an der Bar, hab die Cocktails gemixt und so weiter."

"Später am Abend haben wir dann ums Feuer getanzt. Wir waren alle so ausgelassen! Lag sicherlich auch am Alkohol, aber wir haben uns auch einfach gefreut, dass die Schulzeit vorbei ist und unser Leben jetzt so richtig losgeht."

"Ich hab dann weiter Getränke gemixt. Frag mich nicht wie viele an diesem Abend!"

"Nach und nach hat sich die Runde zerstreut. Ich glaube eingie sind Getränkenachschub holen gegangen. Und Kira war galub ich ziemlich durch, die hat sich oben hingelegt."

"Der Rest von uns hat dann die Flaschen alle gemacht. Shirani hat irgendwann gesagt, sie schaut mal wo der Nachschub bleibt. Leo und du seid dann auch Richtung Haus gelaufen."

"Irgendwann waren nur noch Tommy und ich da, wir haben die allerletzten Gläser geleert."

"Plötzlich hab ich aus dem Augenwinkel etwas von den Klippen fallen sehen und es gab so ein komisches Geräusch. Tommy und ich sind hingelaufen und haben Clara im Wasser treiben sehen."

"Dann kamt ihr anderen dazu. Naja, das war's dann. An den Rest will ich gar nicht denken."

"Also bist du dir sicher, dass es ein Unfall war?"

"Wie gesagt, was soll es sonst gewesen sein? Ich war den ganzen Abend hinter der Bar und ich weiß, wieviel Clara an diesem Abend getrunken hat. Viel. Sehr viel. Hier oben ist es dunkel in der Nacht." Er schaut sich um. "Beziehungsweise war es das mal, jetzt vielleicht nicht mehr. Aber als das alte Haus von Dans Familie hier noch stand, gab es nur eine spärliche Außenbeleuchtung. Die Klippen hat man in der Dunkelheit so gut wie nicht gesehen. Bei ihrem Alkoholpegel kann es schon gut sein, dass sie die Entfernung zum Abgrund falsch abgeschätzt hat."

Merlin nimmt sich ein Glas Limonade und trinkt einen Schluck. "Bitte Joelle, lass uns aufhören, davon zu reden. Der Unfall von Clara war und ist schrecklich, liegt aber auch schon viele Jahre zurück."

Ich nicke und nehme mir auch ein Glas. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Merlin sich den Schweiß von der Stirn wischt. Die Sache scheint ihn ziemlich aufgewühlt zu haben. Ob er immer noch insgeheim an einen Selbstmord glaubt? Andererseits hat er auch ein gutes Argument dafür gefunden, warum Clara die Klippen hinab gestürzt sein könnte. Ich nehme mir fest vor, Zuhause nochmal in die Aktenkopie zu schauen, ob dort etwas über den Alkoholgehalt in ihrem Blut steht.

Kira und Shirani kommen zu uns herüber geschlendert. Sie unterhalten sich gerade über eine neue Bowlingbahn, die in Windenburg eröffnet hat. "Lasst uns da mal alle zusammen hingehen! Das wäre doch lustig!"

"Oh ja, und Joelle bringt ihren Vinny mit!", lacht Shirani.

"Das ist nicht MEIN Vinny!", erwidere ich empört, muss aber in ihr Lachen einstimmen. "Aber ich kann ihn gerne fragen, auf sportliche Sachen hat er glaub ich immer Lust."

"Dann ist das gebongt!", ruft Kira strahlend. "Nächstes Wochenende vielleicht? Bist du da hier, Shirani?"

Die nickt und wirft grinsend ihre langen Haare zurück. "Samstag hab ich einen Termin, aber Sonntag würde gehen."

Es ist inzwischen spät geworden und Merlin verabschiedet sich. "Vielen Dank für die Einladung. Dann freue ich mich schon auf Sonntag!"

Auch Shirani verteilt Küsschen links, Küsschen rechts, um sich auf den Weg zu machen.

Ich nutze die Gelegenheit, mit Kira allein zu sprechen. "Ähm, Kira...? Du hattest mich doch mal gefragt, ob ich bei euch ins Gästehaus ziehen möchte."

Kira sieht mich verwundert an. "Ja? Hast du es dir etwa anders überlegt? Willst du einziehen?" Ihr Gesicht strahlt pure Freude aus, als ich nicke. "Natürlich kannst du noch einziehen, wann immer du möchtest!"

Erleichtert atme ich aus und umarme sie. "Danke! Du bist wirklich eine tolle Freundin!"