Kapitel 20: Flashback


„Du musst einfach mal rauskommen hier“, hatte Vinny gesagt. „So wie ich das mitbekomme, arbeitest du dich zu Tode. Kein Wunder also, dass du dann mal schlapp machst!“

Ihm hatte mein Schwindelanfall am Strand keine Ruhe gelassen. Und so kommt es, dass wir am Samstagvormittag im Zug Richtung Norden sitzen.

„Willst du mir jetzt nicht endlich mal verraten, wo wir hinfahren?“, frage ich, aber Vinny schüttelt vehement mit dem Kopf und freut sich über meine Unwissenheit nur wie ein kleiner Junge.

„Dann ist es doch keine Überraschung mehr!“

90 Minuten später fahren wir in einen kleinen Bahnhof ein und Vinny springt auf. „Hier müssen wir raus!“ Ich greife nach meiner Tasche und folge ihm hinaus. Mein erster Blick fällt auf das Bahnhofschild. „Granite Falls – Süd“ steht darauf und es kommt mir irgendwie bekannt vor.

Während ich noch grübele, wann ich schon mal hier war, greift Vinny nach meiner Hand und führt mich zielgerichtet vom Bahnsteig auf einen kleinen Weg, der in einen Wald führt.

„Spürst du die frische Luft? Du musst tief einatmen, das ist wie Doping für deine Sinne!“

Ich muss lachen und gemeinsam atmen wir mit übertriebenen Atemzügen die Waldluft ein.

Es dauert nicht lange, da erreichen wir eine Lichtung.

„Da vorne ist es!“ Vinny beschleunigt seine Schritte und ich habe Mühe, mit seinen langen Beinen mitzuhalten.

Je näher wir dem Holztor kommen, auf das Vinny zuläuft, desto bekannter kommt mir die Gegend vor. Dann habe ich plötzlich ein Déjà-vu.

Ich bin diesen Weg schon einmal gegangen, vor ungefähr 11 Jahren.

„Hast du den Schmetterling gesehen?“

„Was?“ Vinny reißt mich aus meinen Gedanken. Wir sind nur noch wenige Meter von dem Eingangstor entfernt und Vinny ist abrupt stehen geblieben.

„Der Schmetterling! Hast du den gerade gesehen?“

Ich schüttele den Kopf. Dann sehe ich zum Tor.

„Ahnst du schon wo wir sind?“ Vinny strahlt mich an. „Ich hoffe du magst Camping?“

Ich nicke. „Klar, wer mag das nicht?“

Vinny scheint sich eine freudigere Reaktion erhofft zu haben, denn er mustert mich besorgt. „Wir können auch woandershin. Ich dachte nur, hier mitten in der Natur… Das würde dir mal gut tun.“

„Nein, alles gut. Lass uns reingehen, ja?“

Insgeheim hoffe ich noch, dass ich mich täusche. Dass das hier nicht der Campingplatz ist, den meine Klasse und ich in unserem letzten Schuljahr für eine Woche besucht haben. Dass er sich wenigstens verändert hat. Dass mich hier nichts an Clara erinnern wird.

Doch Vinny öffnet das Tor und sofort schießen Bilder blitzartig in meinen Kopf.

„Ich will neben Tommys Zelt!“ Shirani schiebt sich nach vorne zur Lehrerin und beugt sich dann über den A4-Zettel, den diese in der Hand hält. „Hier, neben das Zelt von Tommy und Dan. Kira und ich wollen das Zelt daneben.“

„Aber in diesem Zelt sind schon Clara und Joelle.“

Shirani schnaubt. „Ich hab von Anfang an gesagt, dass ich in das Zelt will!“

„Ist schon okay, Shirani und Kira können das Zelt haben“, sagt Clara und macht eine wegwerfende Handbewegung. Dann grinst sie mich an. „Wir nehmen einfach das Zelt neben Leo und Merlin, okay?“ Ich nicke und sehe erleichtert zu Leo hinüber.

„Joelle? Hallo?“ Vinny steht vor mir, verunsichert grinsend. „Ist jemand Zuhause?“

„Ja… ja!“ Ich schüttele kurz den Kopf und bemerke, dass wir vor dem Anmeldehäuschen stehen. „Tut mir leid, ich glaube die frische Luft macht mich ganz müde.“

„Ich habe unsere Zeltnummer und zwei Schlafsäcke.“ Er drückt mir einen davon in die Hand. Dann zeigt er zum See, der nicht weit entfernt ruhig daliegt. „Unser Zelt müsste dort drüben sein, in der Nähe des Wassers.“

„Schön“, flüstere ich und folge ihm.

Auf dem Zeltplatz ist nicht besonders viel los. Es ist keine Ferienzeit und das merkt man. Vinny und ich verstauen unsere Sachen im Zelt.

„Hast du Hunger? Wir könnten drüben am Imbiss eine Kleinigkeit essen.“

Ich stimme zu und hake mich dann bei Vinny unter.

„Und dir gefällt es wirklich hier?“

„Auf jeden Fall!“ Ich setze ein Lächeln auf und versuche alle Erinnerungen an früher beiseite zu schieben. Vinny ist so süß zu mir, ich möchte unseren ersten Ausflug nicht verderben.

Er holt uns eine Portion Pommes und Bratwürste, dann setzen wir uns an einen der Tische nahe des Wassers.

„Wir können auch gleich noch schwimmen gehen!“ Vinny beißt genüsslich in seine Bratwurst und blickt auf den See.

Auch ich betrachte die Wasseroberfläche. Und schon wieder tauchen unvermittelt Bilder in meinem Kopf auf, die ich nicht zurückdrängen kann. Sie schieben sich vor mein Blickfeld und versetzen mich zurück in die Vergangenheit.

Ich stehe vor Kira, die gerade dabei ist von ihrem Handtuch am Ufer des Sees aufzustehen.

„Wo steckt denn Shirani?“ Ich helfe Kira dabei das Handtuch auszuschütteln.

Kira winkt ab und deutet auf die Mitte des Sees. „Siehst du nicht? Da drüben! Shirani hat vorhin dreimal gesagt, dass sie auf gar keinen Fall ins Wasser geht. Wegen ihrer Haare. Oder war es die Schminke? Keine Ahnung. Auf jeden Fall sind vor fünf Minuten die Jungs und Clara aufgetaucht, um schwimmen zu gehen. Und Shirani? Die ist aufgesprungen und wie ein Dackel hinterher. Lässt die mich hier einfach sitzen!“ Kira zieht eine Schnute und tritt ununterbrochen gegen den Sand zu ihren Füßen.

Ich berühre sie kurz am Arm. „Mach dir nichts draus. Sie ist einfach eifersüchtig, das kennen wir doch schon.“

„Und jetzt bin ich eifersüchtig!“, ruft Kira, muss dann aber selber lachen, als sie ihre beleidigte Stimme hört. „Komm Joelle, wir holen uns jetzt ein Eis. Das kann man sich ja nicht mit ansehen.“

Ich blicke noch einmal auf den See, wo sich in der Ferne Clara, Shirani und Tommy etwas von der Gruppe abgesetzt haben und folge dann Kira zum Imbiss.

„… und dann habe ich den größten Fisch von allen gefangen! Ist das zu glauben?“ Vinny strahlt mich an und ich brauche einen Augenblick, um zurück ins Hier und Jetzt zu finden.

„Wirklich?!“, sage ich und hoffe, dass das die richtige Reaktion von mir ist.

„Ja! Und seitdem wollte keiner mehr mit mir angeln gehen. Weil ich dauernd diese Geschichte zum Besten gegeben habe.“ Er lacht und verputzt den letzten Rest Pommes.

Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich es nicht schaffe, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Vinny gibt sich so viel Mühe mir Gutes zu tun und ich bin gar nicht ganz da. Zum ersten Mal überlege ich, ob ich ihm von meinen Sorgen erzählen soll. Von Clara und meinen Erinnerungen an damals, die mich immer wieder einholen.

„Aber vielleicht hast du ja Lust, mit mir angeln zu gehen?“ Vinny sieht mich fragend an.

Die Aussicht, aus diesem Campinglager rauszukommen, lässt mich aufatmen. „Na klar! Vorne kann man sich Ausrüstung ausleihen, oder?“

„Ganz genau!“ Vinny klatscht in die Hände und springt dann auf. „Also los. Solange es noch hell ist, sollten wir die Zeit nutzen.“

An einem nahegelegenen Fluss finden wir eine gute Stelle zum Angeln. Es dauert keine drei Minuten, da hat Vinny schon den ersten Fisch an der Angel.

„Der ist ja mickrig“, versuche ich ihn aufzuziehen.

Vinny grinst. „Immerhin größer als das, was du bisher gefangen hast.“ Er deutet auf meinen leeren Eimer.

Nach zwei Stunden, als bereits die Dämmerung einsetzt, habe auch ich endlich einen Fisch gefangen und wir beschließen aufzuhören.

Wir hätten sicherlich noch mehr gefangen, wenn wir nicht ständig lauthals über die Witze des anderen hätten lachen müssen. Glücklich schlinge ich meine Arme um Vinny und küsse ihn. „Danke, dass du mich hierher entführt hast.“

Er lächelt und drückt mich an sich. Dann gehen wir Hand in Hand zurück zum Campingplatz.

An der Feuerstelle in der Mitte des Lagers entfachen wir ein Feuer und warten dann eng aneinander gekuschelt darauf, dass es etwas herunterbrennt. Die Fische liegen, auf Holzstöcken gespießt, daneben bereit.

Ich lege meinen Kopf auf Vinnys Schulter und starre die Flammen an. Unvermittelt driften meine Gedanken ab.

Ich sitze jetzt nicht mehr neben Vinny, sondern neben Leo. Er hat einen Arm über meine Schultern gelegt. Neben uns um das Feuer herum sitzen die anderen. Dan redet mit Merlin, der kaum zu Wort kommt. Tommy und Clara sitzen nebeneinander und lachen immer wieder laut auf.

Dann sind da noch Shirani und Kira. Kira starrt ins Feuer, während Shirani ununterbrochen zu Tommy hinübersieht und ab und zu an Kira gewandt etwas flüstert. Plötzlich steht Kira auf und läuft hinüber zu den Sanitäranlagen.

„Hey Tommy!“ Shirani winkt ihn zu sich hinüber, auf den frei gewordenen Platz. „Komm mal her, ich muss dir was erzählen.“

Tommy lacht und setzt sich neben sie. Grinsend lauscht er Shirani und schaut ab und an auf sein Handy. Clara stochert derweil mit einem Stock im Feuer herum.

„Was Shirani alles für Unsinn erzählt“, murmelt Leo neben mir.

Ich nicke und schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, steht Kira hinter Shirani und Tommy. Sie zögert. Statt sich auf den freien Platz neben Clara zu setzen, macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet im Dunkeln in Richtung der Zelte.

„Hier, dein Fisch.“ Vinny drückt mir einen Stock in die Hand und mustert mich eindringlich. „Du bist ganz schön müde, kann das sein?“

Ich atme einmal tief durch und blinzele dann mit den Augen. Diese Flashbacks müssen endlich aufhören, denke ich mir und spüre eine verzweifelte Wut in mir aufsteigen.

„Vinny, ich glaube ich muss dir etwas sagen.“ Ich lege den Fisch beiseite und weiche seinem Blick aus.

„Ja? Was denn?“

Ich merke wie er mich von der Seite mustert, sehe aber nicht auf.

„Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“

Er schweigt und wartet ab.

„Dieser Ort hier erinnert mich an früher. An meine Schulzeit. Ich hatte eine Klassenkameradin, sie hieß Clara.“ Ich stocke kurz und muss schwer schlucken. „Sie… Sie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie ist in Windenburg von den Klippen gestürzt, am Abend unserer Abschlussfeier. Etwa ein Jahr zuvor waren wir hier gemeinsam auf Klassenfahrt.“

Vinny legt eine Hand auf meinen Arm. „Deshalb auch dein Schwächeanfall gestern am Strand. Dich nimmt das immer noch mit, oder? Ihr ward wohl gut befreundet?“

Ich seufze. „Wir waren zusammen in einer Clique mit Shirani, Dan, Kira und so.“

Vinny legt nun seinen Arm um meine Schulter. „Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt? Ich hätte dich niemals hierher gebracht.“

Ich zögere. „Ich hatte Angst.“

Er runzelt die Stirn. „Wovor denn?“

Ich wische mir eine Träne von der Wange. „Ich mache mir wohl immer noch Vorwürfe, eine Mitschuld an ihrem Tod zu haben. Wir hätten alle besser aufeinander achten müssen! Sie hatte viel getrunken, aber keiner hat sie nach oben begleitet. Ich hatte Angst, dass du mich dafür verurteilst, wenn ich dir davon erzähle.“

Vinny seufzt. „Das würde ich niemals tun. Hast du denn schon mal mit deinen Freunden darüber gesprochen? Zusammen lässt sich so ein Erlebnis meist besser verarbeiten.“

Ich schüttele den Kopf. „Ich bin nach dem Abschluss weggezogen und erst dieses Jahr zurückgekehrt. Die anderen haben das alles schon hinter sich gelassen. Bis auf Leo vielleicht.“

„Leo?“

„Ja, du hast ihn kurz gesehen. Er hat mich bei unserem Besuch im Freibad angesprochen.“

Vinny nickt. „Ich erinnere mich. Was ist mit ihm?“

„Er war lange Zeit der Überzeugung, dass es kein Unfall war, sondern Selbstmord.“

„Selbstmord?“ Vinny zieht die Hand von meiner Schulter und rückt einen Holzscheit im Feuer zurecht.

„Ja. Aber wir haben zusammen Nachforschungen angestellt und sind zum Schluss gekommen, dass es ein Unfall gewesen sein muss.“

Vinny mustert mich und setzt zu einer Frage an, scheint sich dann aber anders zu entscheiden. „Du siehst unfassbar müde aus.“ Er streicht über meine Wange. „Wollen wir schlafen gehen? Morgen sieht der Tag schon wieder ganz anders aus.“ Er lächelt. „Und ich kenne noch einen anderen Campingplatz hier in der Gegend. Ich verspreche dir, morgen ziehen wir um.“

Sein Lächeln lässt mein Herz höher schlagen. Ich bin spürbar erleichtert mit ihm über Clara gesprochen zu haben. In dieser Nacht werde ich ruhig schlafen können.